Beat Gysin

Tagebuch eines Komponisten

ZUR EINFÜHRUNG

Gedanken und Ideen sammeln sich spontan bei meiner kompositorischen Arbeit. Sie begleiten die musikalische Arbeit, verdichten sich oder gehen auch wieder vergessen. Sie betreffen als Selbstreflexion das eigene Schaffen, als Blick auf die Situation der zeitgenössischen Musik andere Komponisten, Ensembles und zwischendurch auch das kulturelle Leben allgemein und sie sind machmal spekulativer Art.

Einige dieser Gedanken und Ideen schreibe ich hier auf. Dieses Tagebuch ist chronologisch geordnet. Alle Eintragungen sind spontan geschrieben und die Texte im Rohzustand.

Ich freue mich über Rückmeldungen auf beat.notexisting@nodomain.comgysin@bluewin.notexisting@nodomain.comch

10. April 2024 virtueller Raum

NEIN! Das Internet ist kein "Raum". Weder ist ein Bild auf dem Bildschirm, das die Illusion eines Raums erzeugt dreidimensional, noch ist das World Wide Net an und für sich dreidimensional. Die Kabel sind es, die Computer. 

Und die Menschen davor. Die physische Realität ist im dreidimensionalen Raum: Jemand sitzt vor einem Computer und gibt sich einer Illusion hin; zum Beispiel der Illusion, dass die Bilder auf dem Bildschirm "echt" sind.

Wer mir vorschlägt, meine Arbeit-mit-dem-Raum doch aufs Internet auszudehnen ("da hast Du viel mehr Besucher als live ....") hat prinzipiell nicht verstanden, worum es mir geht in meinen Projekten.

"Computer-in-der-Welt" sind eine angenehme und/oder anregende Ergänzung. Die "Welt-in-den-Computer" bedeutet hingegen, eine Dimension zu streichen. Generell finde ich, man sollte für etwas kämpfen und nicht dagegen. Wenn ich auswählen müsste, was mich am meisten besorgt und wogegen ich mich einsetzen würde, ist es diese Tendenz des Hineinpferchens unserer wunderbaren sinnlich-dreidiemnsionalen Welt in diesen kleinen Elektrokasten. Auch von den neuen "3D-Illusionsbooster-Brillen" halte ich wenig (ein erweiteres Spiel, das nicht ein müder Abklatsch unserer echten Welt ist). Ich sehe es ja bei meinen Jugendlichen: Sie wurden zum Teil nicht "angelernt" in der wirklichen Welt und verhalten sich darin wie in der Fremde. Sie sind unglücklich. Es ist tragisch, sie tun mir sehr sehr leid!

Aber wie gesagt, setze ich mich lieber für etwas ein. Für eine Erweiterung des musikalischen Hörens: Im Bewusstsein keine Abtrennung zwischen musikalischem und räumlichem Hören mehr, sondern ein Verschmelzen der Hörarten. (Und ja, das Internet koppelt Information gewissermassen vom Raum ab. Darin ist seine Stärke, das ist aber auch die Gefahr.) Es ist ein anderes Hören, ein "Schalter" in der Wahrnehmung muss betätigt werden. Das sinnliche Erlebnis dieser anderen Art zu hören aber ist intensiver - so dass diejenigen, die es erlebt haben, es wieder erleben wollen - diese Möglichkeit möchten ich als Künstler aufzeigen. Das zeige ich in vielen Varianten in meinen Projekte. Die Projekte sind die Pforten für diese erweiterte Wahrnehmung. Sie können Pforten sein, denn den Schritt im Bewusstsein muss das Publikum selbst machen - den Schritt durch die Pforte muss jede/r alleine machen - und erst dann wird eine Pforte zu einer Pforte. Meine Projekte können nur Angebote sein - das bedaure ich natürlich sehr weil ich selbst so überzeugt bin. 

Und so ist auch die Versuchung, "im Internet viele Follower zu haben", keine echte Versuchung. Denn ich müsste gegen meine innerste Überzeugung handeln. Ich bin nicht Komponist, um Geltung zu haben. Sondern um meine Ideen - die wie gesagt alle auf diesem "anderen musikalischen Hören" basieren, umzusetzen. Kraft schöpfe ich aus dieser inneren Überzeugung, nicht aus der Anzahl Followern.

4. April 2024 movements und "bewegte Töne"

Töne können sich im Tonraum bewegen, das ist man sich beim musikalischen Hören gewohnt. Musikalische Tonbewegungen werden als "abstrahierte" Bewegungen wahrgenommen. Wenn sich ein Ton jedoch im dreidimensionalen Raum bewegt, nimmt man eher eine/n MusikerIn wahr, der/die einen Ton spielt und sich dazu im Raum bewegt: In der Wahrnehmung wird die Physis des/r MusikerIn nun mehr gewichtet. Das ist möglicherweise nur eine Frage der Gewohnheit. Denn auch eine musikalische Tonbewegung wird von einem Musiker "physisch" durch Fingerbewegungen erzeugt. 

Wenn ich Musik imaginiere, höre ich sie sich im Tonraum und oft auch im dreidimensionalen Raum bewegen; die Töne bewegen sich in meinem Kopf in doppelter Hinsicht. 

Es ist seltsam: Diese räumlichen Tonbewegungen elektronisch in einem Mehrkanalsystem zu erzeugen, interessiert mich wenig. Dabei könnte ich hier meiner musikalischen Vorstellung doch besonders nahe kommen. Aber es ist "zu einfach".

Ich suche den "Widerstand der physischen Realität", mich interessiert der/die MusikerIn, der/die in zweifacher Bewegung (mit den Fingern und dem ganzen Körper) die zweifache musikalische Bewegung erzeugt. Mich interessiert der Vergleich dieser Realität mit meiner reinen Imagination, es spornt meine Kreativität an. Im Kopf können sich Töne "einfach" dreidimensional bewegen. In der Physik gibt es die alles beherrschende Erdanziehung.

Dunkelheit kann helfen. Die Augen schliessen ebenfalls. Und ich bin überaus gespannt, was es bewirken wird, wenn im "movements"-Projekt auch das Publikum auf den Plattformen im Raum bewegt wird. Es könnte sein, dass es dann die Tonbewegungen-im-Raum ebenfalls in einem abstrahierteren Sinn wahrnimmt - denn das räumliche "Relativsystem" der Wahrnehmung (das "Ich" des/r HörerIn) ist nun ja selbst in Bewegung.

Es gibt also viele künstlerisch-empirische "Forschung" in diesem Projekt - das wird neben der Entwicklung der Plattformen vor allem eine Wahrnehmungsforschung sein.

3. April 2024 Musiktheorie und die Frage: Was "ist" Musik?

Ein Haus ist physikalisch gesehen ein Steinhaufen und Musik in Schwingung versetzte Luft. So wie man das Gebäude betrachtet und in der ästhetischen Diskussion über das Bauwerk spricht, nicht über den Bauplan, sollte man in der Musiktheorie weniger über Partituren sprechen sondern über die "Musik an sich", über das ephemere, klingende Phänomen. Eine Partitur ist eine Handlungsanleitung für die MusikerInnen, eine minutiöse "Choreografie"; aber keine Musik. A propos: Tanznotation wird vor allem zur Rekonstruktion und Dokumentation verwendet; ein/e ChoriegrafIn erarbeitet ein Stück vor Ort mit den TänzerInnen. Der Übergang von der Partitur, die gelesen wird, zur Musik, die gehört wird, ist besonders heikel, weil die beiden Organe Auge und Ohr so unterschiedlich sind. Das Auge ist nach vorne gerichtet, das Ohr rundherum. Das Ohr ist schneller als das Auge, usw. 

31. März 2024 Wie komponiert man nach der unten beschriebenen "neuen Musiktheorie"?

Danke für diese Frage!

Musiktheorie ist keine wissenschaftliche Theorie im Sinn, dass ein Sachverhalt so erklärt wird, dass Voraussagen für zukünftige Ereignisse möglich sind. Sie geht zwar ebenfalls von Gedankenmodellen aus und sie ist auch in die Zukunft gerichtet. Sie will aber nicht im wissenschaftlichen Sinn Ereignisse voraussagen, sondern ist eher eine Art Anleitung (oder zumindest Leitplanke) fürs Komponieren.

Wenn nun die HörerInnen ins Zentrum einer "neuen Musiktheorie" (siehe frühere Texte im Tagebuch) gestellt werden, bedeutet das nicht das Ende des Komponierens = Notenschreibens sondern eine Erweiterung der Arbeit.

Herkömmlicherweise teilt man in drei Rollen auf: KomponistIn / InterpretInnen / Veranstalter. Der Veranstalter ist nahe beim Publikum, hat einen Interessenten- oder Freundeskreis. Die InterpretInnen "übersetzen" die Noten in klingende Musik und verantworten herkömmlicherweise oft die Umsetzung im Raum. Sie stehen zwischen Veranstalter und KomponistIn. Letztere/r kümmert sich herkömmlicherweise wenig um das Konzert.

Gemäss einer neuen Musiktheorie komponieren bedeutet, dass schon beim Kompositionsprozess an das Verhältnis zur Umsetzung im Raum und zum Publikum gedacht wird - zur "Realität der klingenden Musik". Der/die KomponistIn bedenkt die Interpretation und Veranstaltung mit, das heisst er nimmt (als Ausgangspunkt) zuerst Bezug zur realen Welt der Aufführung. Das Komponieren muss sich nicht darauf beschränken; es darf, ja soll ausschweifen, abstrahieren, ... . 

Ein paar Beispiele aus meiner Arbeit:

In "Punkt und Gruppe" im Projekt "NUMEN" habe ich eine allgemeine Raumanordnung in Kirchen als Grundlage für die Komposition genommen. Die Musik kann sich nur in Kirchenräumen entfalten; es braucht für Musik eine architektonische Trennung zwischen Kirchenschiff und Chor. Zur Komposition gehören "allgemeine" Aufstellungen und Laufwege in einer "allgemeinen Kirchenarchitektur", die in jeder Kirche präzisiert werden müssen. Der dramatische Höhepunkt besteht darin, dass eine Sängerin sich aus dem Kirchenschiff weg in den Chor begibt - eine räumliche ebenso wie eine symbolische Bewegung in einem "entschwebenden" Klang. "Punkt und Gruppe" kann auch als Umsetzung der Jona-Geschichte gesehen werden; das Kirchenschiff wäre so etwas wie der Walfischbauch.

In "LIT MARVEIL" sitzen die Gäste (in eher kleinen Räumen) auf je einer Drehplattform und hören mit zugedeckten Augen einzeln je einer/m SängerIn zu - ein 1:1-Setting. Die Gäste sind zum "Zentrum" geworden; im wörtlichsten Sinn dreht sich alles um sie. Sie müssen vor der Aufführung eine Einverständniserklärung unterschreiben, dass sie weder klaustrophobisch sind noch Angst haben, mit einer Person alleine in einem kleinen Zimmer zu sein (= Veranstalterseite) Dieses "Setting" ist gleichzeitig ein Ausgangspunkt der Komposition: Der Umstand, dass sich zwei Menschen räumlich sehr nahe kommen wird musikalisch in eine Unterscheidung zwischen Nah- und Im-ganzen-Raum-Feld übersetzt. Das heisst, es wird unterschieden in sehr leise Klänge und Geräusche, die nur am Ohr hörbar sind und solche, die im ganzen Raum klingen. Welche Klänge sind so leise, dass man sie nur am Ohr hört? Was ist hier sängerisch-technisch überhaupt möglich? Von der Partitur gibt es eine "allgemeine" Version; jede/r SängerIn aber erhielt eine persönliche Version. Denn "nah und ganz leise" geht für eine Sopranisten stimmtechnisch nicht mit denselben Tönen wie für eine Altistin.

Bei LIT MARVEIL geht es aber vorrangig gar nicht um "Nähe und Distanz", sondern ums Hören-beim-Gedreht werden. Die Drehplattform wurde schon vorher gebaut. Der Stuhl ist in gewisser Weise eine Ursprungsidee. Es haben vor der ersten Note viele Experimente stattgefunden, viele Situationen wurden getestet. Dazu brauchte es "Testpersonen" und Gesprächspartner auf vielen Ebenen. Ihre Rückmeldungen waren für das Komponieren ausschlaggebend.

Neu soll also auch in Situationen und mit Hör-Testpersonen experimentiert. Die - wie soll ich es denn nennen? - "Niederschrift" von LIT MARVEIL ist schliesslich eine Mischung aus allgemeinen Angaben (zB die oben beschriebene Vereinbarung), reinen Choreografieanweisungen (zB "den Stuhl um eine Vierteldrehung drehen") und einer Noten-Partitur (zB "nach drei Minuten direkt ins rechte Ohr folgendes Stück singen"). 

In meinem neuen Werk "Berkwerkmusik - Stille" (ab Sommer 2024) plane ich ein Rahmenprogramm mit. Es gibt drei unterschiedliche Möglichkeiten, sich dem Werk anzunähern: rein musikalisch, historisch oder geografisch. Wer rein musikalisch interessiert ist, kann vor dem Konzert einen Workshop besuchen. Wer sich historisch interessiert kann eine Einführung oder einen anschliessenden Vortrag anhören und kann die Gedichte lesen, die der Musik zugrunde liegen. Wer sich geografisch interessiert, kann eine Wanderung ans Konzert anschliessen, einen Vortrag hören oder Aufführungen in verschiedenen Bergwerken besuchen - denn das Werk wird sich den geologischen Gegebenheiten anpassen. Wer sich eingehend und umfassend interessiert besucht Aufführungen an mehreren Orten und nimmt am Rahmenprogramm teil. 

Und so weiter: In "movements" wird das Publikum mit zugedeckten Augen auf Plattformen durch eine Gegend gefahren. Diese Plattformen sind kleine "save places", man verlässt sich auf einen "Guide" der die Plattform stösst; das Projekt hat eine stark soziale Komponente, auch Geh- und Sehbehinderte sind einbezogen - die Musik wird davon ausgehen. Dieses Projekt ist auf allen drei Ebenen (Komposition, Interpretation, Veranstaltung) so komplex, dass ich vor der ersten Umsetzung über drei Jahre Vorprojekte und "öffentliche" Experimente durchführe.

17. März 2024 Musikräume, Musikaufführungen und Soziales

Wieder mal ein paar Zeilen-auf-Anregung. Ich wurde gefragt, ob ich mit meinem Hang, Musik für Nicht-Konzerträume zu schreiben, auch soziale Ziele verfolge. Hmm; ich habe manchmal gewisse Aversionen gegen die klassischen Konzerträume, weil ich es eher langweilig finde, dass Musik immer quasi am selben Ort aufgeführt wird (Konzertsäle sollen ja überall gleich sein). Und immer etwa "gleich sozialisiert".

Ich suche Räume und Raumtypen zuerst für meine künstlerischen Ideen, so wie für das Projekt diesen Sommer, das in Bergwerkstollen stattfinden soll. Zurück zur Frage: Verfolge ich damit, ohne dass ich es recht bewusst bin, auch eine soziale Idee? Vielleicht - ich werde über diese Frage wohl länger nachdenken müssen. Wenn, dann wäre diese soziale Idee in etwas folgende: persönlich, die Nähe zu den Menschen und ein (fast schon wissenschaftliches) Interesse an der musikalischen Sache suchend. Ich will, dass Musik "überall" sein kann und ich will, dass Menschen überall Musik hören können. Mir ist der liebevolle Anlass wichtig (und darin die Gemeinschaft), die Pflege des musikalischen Hörens in einer ausgewählten Situation, mit einem Anfang und einem Ende. Das Persönliche aber geht manchmal verloren, wenn die Hörgemeinschaft zu gross wird; also werde ich vorsichtig wenn man von grossen Besucherzahlen spricht. Ich kann wenig Interesse aufbringen für ein Publikum, das an eine Aufführung kommt, weil es schick ist. Das ist schlimmer als ein Publikum, das etwas schlecht findet. Ich "will mein Publikum ganz", zumindest für die kurze Zeit einer Aufführung, dafür tue ich viel. Ich suche Nähe zu den Hörer:innen aber auch "aus Prinzip", weil meine künstlerische Vision des Hörens-im-Raum dies nahelegt. 

8. März 2024 Musik und Information

Schall-Schwingungen der Luft sind objektiv messbar. Information von Sprache ist kodifiziert also innerhalb eines Sprachraums intersubjektiv. Geräusche kann man oft einem Subjekt oder Objekt zuordnen. Töne kann man zwar einem Instrument zuordnen.

Aber als "Information" von Musik werden Strukturen geschichteter und bewegter Tonanordnungen verstanden. Diese musikalische "Information" hat viel mit Erwartungen und Gewohnheiten zu tun, die ihrerseits etwas mit musikalischer Bildung zu tun haben. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen nach einem Konzert manchmal sagen, sie hätten es nicht verstanden.

Es ist für die zeitgenössische Musik fatal, dass sie an den Schulen nicht mehr gelehrt wird.

7. März 2024 Kritik an der klassischen Musiktheorie

Die klassische Musiktheorie war ein Regelwerk und somit in gewisser Weise eine Anleitung für Komponisten (und fürs Hören). Es gab so etwas wie die 10 musikalischen (Hör-)Gebote. 

Die klassische Musiktheorie war nie daran interessiert, wie Hören funktioniert, wie Akustik, wie musikalische Kommuniikation. Vielmehr wollte sie eine Anleitung sein, Gebote erstellen.

Dies mag einmal akzeptiert worden sein. 

Eine "Theorie" ist aus wissenschaftlicher Sicht eine erhärtete Hypothese, eine Annahme, die sich bewährt hat. Sie widersteht andauernden Falsifizierungsversuchen. Dies ist vollkommen anderer Ansatz als der Regelkatalog der klassischen Musiktheorie.

6. März 2024 Kritik an einer neuen Musiktheorie?

(vgl Eintrag vom 9. Dezember 2023)

Man könnte einwenden: Von den beschriebenen fünf Ebenen sind die erste bis dritte uninteressant da objektiv. "Interessant" wäre damit gleichgesetzt mit intersubkektiv und subjektiv.

Man könnte einwenden: Alle Individuen hören etwas anderes, über subjektive Aspekte kann man keine Musiktheorie machen.

Damit würde die vierte Ebene bleiben, die Ebene der klassischen Musiktheorie. Diese Einschränkung hätte zur Folge, dass eine theoretische Überlegung an das Phänomen Musik nicht herankommt. Genau das ist das Problem des klassischen Musiktheorie. Sie interessiert nicht mehr.

1. März 2024 "Prämisse" einer neuen Musiktheorie, eine Ergänzung zum 8. Dezember 2023

Die Prämisse einer neuen Musiktheorie würde lauten: Erste Ausgangspunkte einer musiktheoretischen Betrachtung sind (neu) das (objektiv messbare) klingende Phänomen im Raum und dessen Wahrnehmung durch Menschen.

1. Klang ist ein physikalisches Phänomen - in einer neuen Musiktheorie stehen an allererster Stelle objektiv messbare Teile: das Klingen im realen Raum.

2. Klang wird gehört - eine neue Musiktheorie ordnet sich in eine allgemeine Theorie des Hörens ein, die ausgehend von physiologischen und allgemeinen psychologischen Voraussetzungen auf kulturelle und subjektive Aspekte der musikalischen Wahrnehmung eingeht.

3. Wer Musik "untersucht", kann (soll) sich zur vertieften Reflexion des direkt (möglicherweise unzulänglich) Erlebten der Partitur, Aufnahmen, Architekturplänen und früheren Rezensionen bedienen sowie sich Gedanken über die Darbietung (Umstände, Interpreten) machen. 

4. Der Komponist fragt sich nicht ausschliesslich: "Was ist mein Werk?", sondern auch: "Wie kommuniziere ich meine Ideen?" Er betrachtet die Umstände des Hörens (Raum, Interpreten, Zuhörende, ...) als Teil seines Werks.

8. Dezember 2023 Kurze Skizze einer neuen Musiktheorie

Spielt Räumlichkeit im Hören eine Rolle? Ja. Spielt Räumlichkeit in der klassischen Musiktheorie eine Rolle? Nein. Man könnte diskutierem, weshalb das so ist. Wahrscheinlich (unter anderem), weil sich die klassische Musiktheorie in erster Linie auf Partituren bezieht. Tatsächlich: In dieser abstrahiert-notierten Form ist Musik raumlos. Aber eine Partitur ist noch keine Musik. Man müsste also streng von "Partituren-Theorie" sprechen. Aber das ist ein anderes Thema; der "Warum"-Frage sollen andere nachgehen.

Wenn Räumlichkeit Teil von musiktheoretischen Betrachtungen werden soll - und dies ist angebracht, weil Klang sich dreidimensional ausbreitet und das Gehör für  räumliche Wahrnehmung ideal geschaffen ist - rücken anstelle der Partitur das räumlich-klingende Phänomen (Physik) und dessen Wahrnehmung (Physiologie und Psychologie) ins Zentrum von Überlegungen.

In der bisherigen Musiktheorie wurde das "niedergeschriebene Werk" an den Anfang gestellt; es wurde als eine Art Quelle betrachtet, zuerst für Interpretationen und dann für das Musikerlebnis. In einer neuen Musiktheorie wird das Erlebnis der Aufführung an den Anfang gestellt: Aus dem konkreten Musikerlebnis heraus schliesst der Theoretiker auf die Interpretation und daraus erst auf das Werk. Er "abstrahiert" sein Erleben zurück bis zur Partitur. Der "Weg" des neuen Theorietikers ist der umgekehrt des klassischen Theoretikers.

Mit diesem Herangehen wird eine musiktheoretische Untersuchung allgemeiner. 

Auf einer ersten Ebene werden in einer neuen Musiktheorie Fragen der Physik gstellt. Wie spielen der klingende Zeitraum-Körper (die Musik) und der Raum (objektiv) zusammen? Das betrifft zum Beispiel Fragen der Raum-Akustik (Hall, Raumgeometrie, ....), des Instrumentalklangs, und so weiter.

Auf einer zweiten Ebene werden Fragen der Physiologie des Hörens gestellt: wie nimmt das Gehör Geräusche, Klänge und Töne wahr (wie reaktionsschnell, wie laut, ...).

Auf einer dritten Ebene werden allgemeine Fragen der Hör-Psychologie und Fragen der Verbindung der Hör-Psychologie mit anderen Sinneswahrnehmungen gestellt. Was (wieviel Information) kann bewusst überhaupt wahrgenommen werden (vgl mp3-Codierung)?

Auf einer vierten Ebene kommen Fragen des kulturellen Rahmens hinzu, die die klassische Musiktheorie teilweise beantworten kann. Allerdings muss dieser Rahmen allgemeiner gefasst werden. Das Setting früherer Jahrhunderte, in dem die klassische Musiktheorie erfolgreich sein konnte (ein in sich konsistenter Kulturraum) existiert nicht mehr. Die Frage nach "intersubjektiven Regeln" der Wahrnehmung muss allgemeiner gestellt werden: was welche Menschen wann in welchen kulturellen Kontexten hören - wie sie durch ihre Kultur konditioniert sind. Auf dieser vierten Ebene werden Fragen zu den "Spielregeln" (zB allgemeine Erwartungen) und zur Kommunikation gestellt. 

Die dritte und vierte Ebene unterscheiden sich, indem Aussagen auf der dritten Ebene für alle Menschen gelten, solche auf der vierten Ebene nur in einem bestimmten Kulturkreis.

Auf einer fünften Ebene werden Fragen des persönlichen Hörens untersucht. Diese Ebene ist für den Musiktheoretiker heikles Terrain. Denn hier muss er persönlich denken und seine Untersuchungen somit relativieren.

Die fünf Ebenen durchmischen sich in der Realität einer Untersuchung. Dennoch hilft es, sie vorerst hierarchisch zu verstehen. Auf der ersten, zweiten und dritten Ebene sind Fakten ausschlaggebend (objektiv): Physik, Hörphysiologie und grundlegende "Gesetze" der Pyschologie gelten allgemein und sind objektiv. Es erleichert jede theoretische Untersuchung, wenn gewisse Aspekte nicht diskutiert sondern konstatiert werden können und es unterstützt eine Überlegung, wenn sie auf Fakten basiert. Eine abschliessende persönliche Relativierung bereichert jede musiktheoretische Untersuchung. Denn sie verdeutlicht, dass es hier nicht um eine exakte Wissenschaft geht und dass die Rhetorik des Musiktheoretikers  ausschlaggebend für den Erfolg seiner Untersuchungen ist.

24. August 2023 Musik und Umweltbewusstsein

In einem Onlineformular, mit welchem man sich für eine Projektförderung bewerben kann, wurde gefragt: "Welchen Beitrag kann Ihr Projekt an die Umwelt leisten?"

Ein Musikprojekt soll einen Beitrag zur Umwelt leisten? Wie denn? Musik kann (als Kunst) bestenfalls die Wahrnehmung (präziser: die Hörwahrnehmung) derjenigen ändern, die zuhören. Sie kann das wohl eher kurzfristig - im Moment des Zuhörens und wohl nur im seltenen Fall anhaltend - wenn beim Zuhören während einem Stück das Hören generell verändert wird. Und vielleicht kann sie es auch, indem sich Wahrnehmungen durch häufig wiederholtes Hören eines Stücks ändern. Aber das hat alles nichts mit Umwelt zu tun.

Wenn Musik also keinen direkten oder gar aktiven Beitrag zur Umwelt leisten kann, könnte sie wenigstens über den Umweg einer Hör-Wahrnehmungsänderung, und eventuell nur "dereinst" - also durch die veränderte Hör-Wahrnehmung - ein "Umweltbewusstsein" auslösen oder fördern? Naheliegend ist das nicht. Und so gesehen ist die Frage im Online-Tool ein Blödsinn.

Wikepedia: "Das Umweltbewusstsein ist die Einsicht eines Menschen in die Tatsache, dass Menschen die natürliche Umwelt – und damit die Lebensgrundlage der Menschen – durch ihr Tun und Lassen bzw. durch Eingriffe in die Umwelt schädigen oder ihr natürliches Gleichgewicht gefährden." Das würde heissen: Sofort aufhören zu musizieren, wenn man nicht die Umwelt gefährden will. 

CareElite: "Laut Lexika setzt sich das Umweltbewusstsein zusammen aus dem Umweltwissen, den Umwelteinstellungen, den Verhaltensintentionen bezüglich der Umwelt und dem tatsächlichen Umweltverhalten eines Menschen." 

Es gibt in der klassischen Beschreibung von Musik mit Hilfe von Tonhöhen, Dauern, Lautstärken und Klangfarben keine Verbindung zur Umwelt. Mit Hilfe dieser vier Parameter kann man die Musik "in sich" selbst beschreiben, ihre Struktur, ihren Aufbau. Musikpsychologen denken darüber nach, welche Wirkung musikalische Strukturen auf den Hörer haben, Musikhistoriker über vergangene Wirkungen, Soziologen über musikalische "Modeerscheinungen". Komponisten stellen sich Landschaften zu ihrer Musik vor oder umgekehrt (eine lose etwas romantische Assoziation). Aber auch daraus ergibt sich keine echte Umwelt-Beziehung. Auch Beethovens Pastorale hat nichts mit Umweltbewusstsein zu tun.

Aus Sicht eines Komponisten sollte man zwischen Umweltbewusstsein und  Umgebungsbewusstsein unterscheiden. Unter "Umgebungsbewusstsein" finde ich im Internet entweder auf Seiten über Kinderpsychologie, die etwa schreiben: "Inwiefern nimmt ein Kind seine Umwelt wahr? Wie viele Einzelheiten bleiben in seinem Gedächtnis hängen? Alltägliche Dinge, wie Namen, Zeiten und die räumliche Orientierung haben mit dem Umgebungsbewusstsein zu tun." Oder ich lande auf socialmedia-Seiten, die vom Internet sprechen: "Ambient Awareness ist ein Begriff, der von Sozialwissenschaftlern verwendet wird, um eine neue Form des peripheren sozialen Bewusstseins zu beschreiben."

Eine echte Beziehung zwischen Musik und der Umwelt kann nur entstehen, wenn man Musik nicht in einem rein innermusikalischen Sinn (losgelöst von der Umgebung) hört, sondern sie (auch!) in einem akustischen Sinn hört. Denn dann nimmt man sie (auch) als klingendes Phänomen-in-der-Umgebung wahr: Man hört dann nicht nur die Musik, sondern auch die Umgebung.

Dazu braucht es ein akustisches Umgebungsbewusstsein. Aber es geht dabei nicht um ein Andershören von bestehender Musik, auch nicht um Aufführungen nichträumlich gedachter Musik in besonderen Umgebungen wie beispielsweise der Aufführung einer Mozart-Sonate am Seeufer. Diese Musik wurde "losgelöst" von der Umgebung komponiert; bestenfalls als "Kammermusik" oder Orchestermusik für eine Saalgrösse vorgesehen. Sie im Nachhinein in ein umweltpolistisches Korsett zu zwingen, tut ihr aber nur Schaden an. Und man kann sie beim besten Willen auch nicht "umgebungsbewusst" hören.

Vielmehr geht es zuerst um eine "andere Musik", um ein anderes Komponieren, um Musikentwürfe, worin die Musik als ephemere Klangerscheinung-in-einer-Umgebung verstanden wird. Es geht um eine Musik, die als Raummusik entworfen wurden und die deshalb ein Hören-im-Raum nahe legt. Eine Musik, die sonst - mit den herkömmlichen Hörgewohnheiten - nicht verstanden werden kann. Eine Musik, die von Anfang an ein anderes Bewusstsein verlangt: ein Umgebungsbewusstsein.

Wenn man eine solche Musik beschreiben oder gar eine Raum-Musiktheorie entwerfen würde, müsste der Raum immer Teil der Beschreibung sein. 

Und wenn eine solche Musik aufgeführt würde, müsste offensichtlich sein, dass man sie mit "Raumohren" hören muss. Im herkömmlichen Konzert sind die ZuhörerInnen eine gewisse Art des Hörens gewohnt - eindeutige "Zeichen" schon vor der Aufführung müssten deutlich machen, dass diese Art des Hörens nun gewissermassen unvollständig oder gar irreführend ist und dem Werk auf jeden Fall nur teilweise gerecht werden kann.

Eine Raum-Musik könnte a priori nicht auf einem Tonträger mit dem Anspruch reproduziert werden, sie "wiederzugeben". 

Nur ausgehend von einem solchen raum-musikalischen Denken und einem musikalischen Umgebungsbewusstsein könnte man darüber sprechen, ob vielleicht (durch Musik, die ein solches verlangt) so etwas entstehen kann wie ein allgemeineres Umgebungsbewusstsein.

Und: Ob aus einem solchen allgemeineren Umgebungsbewusstsein später auch einmal ein Umweltbewusstsein entstehen könnte, wäre nochmals eine andere Frage.

Aber ich frage mich: Können Menschen überhaupt umweltbewusst sein, ohne dass sie umegebungsbewusst sind? Ist Umweltbewusstheit nicht zwingendermassen eine Weiterentwicklung eines Umgebungsbewusstseins?Und: Können Menschen umgebungsbewusst sein, ohne dass sie "im Raum" hören - wo doch das Gehör für die Raumwahrnehmung so entscheidend ist?

Immerhin: Die Frage im Onlineformular war anregend; anregend, meine Musik wie folgt zu beschreiben: "In meiner Haltung zu Musik (sie als klingendes Phänomen in der Umgebung zu verstehen) ist ein Umgebungsbewusstsein enthalten."

Übrigens: Dies alles kann man das in einem Online-Formular nicht ausführen - nach 300 Zeichen ist Schluss. Das ist die Tragik dieser Formulare. 

 

16. April 2023 Die zwei Hälften der Leichtbauten-Reihe

Zwischen den einzelnen Projekten der Leichtbauten-Reihe gibt es vielerlei Bezüge. So war die Drehung ein Thema bei "Chronos" und "HAUS". In "Chronos" wurde das Publikum auf einer Art Karussell um die MusikerInnen (in der Mitte) gedreht. Bei "HAUS" (und darin bei "LIT MARVEIL") wurde jede/r ZuhörerIn um die eigene Achse gedreht.

"HAUS" ist das vierte und gleichzeitig das erste Projekt der zweiten Hälfte der Leichtbauten-Reihe. Die zweite Hälfte der Reihe unterscheidet sich von der ersten durch einige Merkmale. Die klassische Aufteilung des Aufführungsraums in Bühne und Zuschauerraum ist nur noch eine Möglichkeit räumlicher Konzeption unter Vielen. (So wie die klassische Physik aus Sicht der modernen Physik nur eine begrenzte Physik war.)

Um es exemplarisch am Projekt "HAUS" auszuführen: Bei allen drei Stücken (LIT MARVEIL, HAUSMUSIK, ARCHITEKTURMUSIK) variierte der Abstand zwischen den MusikerInnen und dem Publikum stark (von weit und kaum hörbar bis wenige Zentimeter). Bei allen drei Stücken waren die MusikerInnen oft nicht sichtbar, im ganzen "Aufführungs-Haus" verteilt. Bei allen drei Stücken mussten sich die MusikerInnen überlegen, was aus der Perspektive der ZuhörerInnen wie laut hörbar war - sich also emphatisch in die Hör-Situation der Gäste versetzen.

Im zweiten Teil der Leichtbauten-Reihe findet Musik also verallgemeinernd gesprochen "irgendwo" statt und nur möglicherweise im klassischen "Gegenüber" vom Publikum, und oft auch nicht im selben Raum. Weil die Besucher die Ohren spitzen und überall hinhören sollen, weil ihre räumliche Orientierung vielleicht infrage gestellt wird, gewinnt die "Lokalisierung", also der Bezug zum Ort der Aufführung gegenüber dem ersten Teil der Leichtbauten-Reihe noch mehr an Bedeutung. In klasischen Konzepten darf man, an seinem abgedunkelten Platz sitzend vergessen, wo man ist. Im ersten Teil der Leichtbaitenreihe wurden in sich geschlossene Raumsysteme erstellt, die zwar mit Bedacht gut platziert wurden, in denen der umgebende Raum während der Aufführung aber teilweise vergessen gehen konnte. Im zweiten Teil spielt das "Wo, Worin und Wohin" eine noch bedeutendere Rolle. Es wird ein inniger Bezug zwischen dem Aufführungs-Ort und und der Musik geschaffen. Passende Räume werden akribisch ausgewählt und die Musik dann ihrerseits wird an sie angepasst.

Der Hauptunterschied zum ersten Teil ist aber ein anderer: Das Publikum wird bewegt. (Zwar wurde es schon in "Chronos" auf der Drehbühne bewegt, dabei aber in einem Aufführungsraum, ohne akustische Relevanz). In "movements" sitzen die Gäste auf Plattformen und werden in einem ganzen Areal herumgefahren, auf das die MusikerInnen verteilt sind: viele Räume, Türen, Gänge, innen-aussen, usw.

Ein Einwand gegen den zweiten Teil der Leichtbauten-Reihe ist, dass es für MusikerInnen anstrengend und ungewohnt ist, aus der Perspektive der HörerInnen zu denken. Gerade "LIT MARVEIL" wurde von dern SängerInnen aber mit Enthusiasmus umgesetzt, weil es einen persönlichen Kontakt zu den ZuhörerInnen gab, sie ihr Singen wie ein Geschenk an Individuen geben konnten.

Ein weiterer Einwand speziell gegen die Projekte der zweiten Hälfte ist, dass sie für Veranstalter zu aufwändig sind; wer will sich zumuten, so viele passende Räume für so wenige BesucherInnen zu suchen. 

Die Publikums-Rückmeldungen sind enthusiastisch: dass die "Einzelbetreuung" ein viel persönlicheres, in gewisser Weise fast intimes Musikerlebnis möglich mache und sich dadurch ein neuer Zugang zum musikalischen Hören-an-und-für-sich öffne, wie es in der üblichen Konzertsituation nicht möglich sei.

27. März 2023 Klang und Akustik - Musik und Architektur

Jeder Klang klingt in einem Raum, genauer: in einem Innenraum. Der Klang verlangt gewissermassen nach dem Raum, der ihn hüllt. Jeder Innenraum verlangt nach einem Klang, sonst ist er für den Hörsinn nicht existent. Das Verhältnis von Klang und Akustik ist einigermassen einfach.

Musik ist die Kunst der Klänge. Dennoch wird sie manchmal als raumlose Kunst verstanden. Architektur ist die Kunst der Räume. Dennoch wird sie manchmal als Kunst-ohne-Klang verstanden.

Das Verhältnis von Musik und Architektur ist komplexer als dasjenige von Klang und Akustik.

18. März 2023 Planung und Improvisation im movements-Projekt

Am Anfang vom movements-Projekt stehen fahrbare Plattformen. Darauf können Gäste aber auch MusikerInnen, Scheinwerfer, Lautsprecher oder sogar Wände bewegt werden.

Eine Komposition kann sich somit auf mehrere Räume verteilen. Dabei gibt es nur schon für die MusikerInnen viele Möglichkeiten: 1. MusikerInnen sind stationär in einzelnen Räumen 2. MusikerInnen bewegen sich mit dem Publikum 3. MusikerInnen begegnen sich auch gegenseitig.

Wenn das in einem Projekt so vorgesehen ist, kann im Voraus Vieles geplant werden - dann gleichen sich die Aufführungen. Es kann aber auch Einiges improvisiert werden. Dabei gibt es zwei Varianten: Entweder das Improvisieren liegt bei den MusikerInnen und denjenigen, die die Plattformen stossen. Oder das Improvisieren liegt auch beim Publikum: Wenn die Gäste zum Beispiel Wünsche anbringen, wohin die Plattformen gefahren werden sollen.

4. März 2023 Perspektivenwechsel in der kompositorischen Imagination

Komponieren im klassischen Sinn bedeutet, Klänge, musikalische Abläufe usw. zu imaginieren. Oft folgt der Komponist dabei einem Konzept; dieses kann aussermusikalisch sein wie ein Gedicht oder ein biologischer Prozess den er (oder sie) nachvollzieht, nachempfindet, interpretiert usw. oder "halbmusikalisch" wie eine Sonatenform oder eine Klangstruktur. Ein solches Konzept steuert also (mehr oder weniger streng) die kompositorische Imagination und bewirkt (sofern gut umgesetzt), dass die Komposition eine "sinnvolle" musikalische Form erhält, wobei dieser "Sinn der Form" nichts Absolutes ist, sondern sich innerhalb eines Kulturkreis einstellt. Die kompositorische Imagination kann ausschliesslich im Kopf entstehen. So soll Beethoven unwirsch zu einem Geiger gesagt haben: „Was kümmert mich seine elende Fiedel, wenn der Geist zu mir spricht?“ Komponieren bedeutet aber meist auch ausprobieren, auf dem Klavier, anderen Instrumenten oder dem Computer. Auch beim Ausprobieren entstehen Ideen, vielleicht spontan. Und natürlich wird jeder Komponist Partituren anderer Komponisten anschauen und sich inspirieren lassen. Es gibt viele Wege, wie die kompositorische Imagination entsteht. 

Je mehr Details in die kompositorische Imagination einfliessen, desto mehr Konzentration braucht das Imaginieren. Tonhöhen und Rhythmen verlangen wenig "brainpower". Alle kennen das: Ein Liedchen kann man aus dem Kopf trällern, während man sich im täglichen Leben bewegt. Müsste man sich auch all die Klangfarben eines Orchester vorstellen, würde dies die ganze Konzentration verlangen und man würde einen ruhigen Ort bevorzugen, wo diese anstrengende Orcherster-Imagination durch nichts abgelenkt würde.

Wenn ich immer wieder von "Perspektivenwechsel" spreche (s. Texte unten), spreche ich zunächst von dieser zweiten, anstrengenden Klangimagination. Ich füge zur Instrumentalklangimagination aber noch eine weitere Ebene hinzu: Die Vorstellung wie die Musik aus der Perspektive der/s HörerIn und im Raum klingt. Ich spreche vom Versuch, die Realität des individuellen Hörerlebnis vollständig in der Imagination vorwegzunehmen. Diese Integral-Imagination fasst Tonhöhen, Rhythmen, Instrumentalklänge und ihr Mischungen im Ensembleklang zusammen und impliziert ebenfalls die Akustik und den Hörort des Gasts.

Eine solch detaillierte Imagination ist besonders anstrengend und mehr noch: Sie setzt Erfahrungen-vor-Ort voraus, das Klangexperiment am Aufführungsort. Denn jeder Ort ist anders. Eine einigermassen realitätsnahe Imagination des Hörorts muss auf Erinnerungen an den realen Auffühurungsraum basieren. (Man kann diese Experimente-vor-Ort aufnehmen, sie später in der Komponierstube wieder anhören und sich mit der Tonaufnahme beim Imaginieren helfen.) Das braucht Teamwork mit den Interpreten.

28. Februar 2023 Wie sich der Klang der Musik und die Architektur von Innenräumen ergänzen können

Klang füllt einen Innenraum, Architektur hüllt einen Innenraum. Insofern sind Klang und Architektur in gewisser Weise komplementär. Allerdings ist Musik mehr als Klang und Architektur mehr als Innenräume. Es wäre also zu einfach, die Verbindung ausschliesslich über die Akustik zu denken.

Nie vergesse ich das Konzert im KKL. Die Akustik der Salle Blanche kann man einstellen, sie so anpassen, dass Musik aus verschiedenen Epochen sich darin gut entfalten kann. Das Orchester spielte ein früh- und ein spätromatisches Stück. Die Akustik war auf "grosser Saal" eingestellt und alle spürten, dass Musik und Raum erst beim spätromantischen Stück zusammen passten. Wenn Kammermusik in grossen Sälen aufgeführt wird, passt es nie. In Kirchen gibt es die Kanzel mit ihrer Decke - die den Klang der Pfarrerstimme direkt ins Publikum reflektiert. Der Pfarrer musste langsam sprechen, oft innehalten und dem Verhallen der Stimme in der Kirche nachhören; dann verband sich seine Stimme perfekt mit der Kirchenakustik. Moderne Lautsprecheranlagen zerstören diese Wirkung und der Pfarrer muss nicht mehr auf das Nachklingen seiner Stimme im Raum achten.

Utopisch gedacht müsste ein Saal nicht nur für eine Musik-Epoche oder einen Musikstil gebaut werden. Vielmehr müsste er für jedes Stück, nein präziser, in der Situation direkt und sofort auf Musik reagieren können: ein Klang mit viel Hall, der nächste in intimer Akustik und so weiter. Für einen solch unmittelbar anpassungsfähigen Saal habe ich 2008 ein Patent eingereicht. Die Zeit, besser gesagt, der technische Stand, ist dafür aber wohl noch nicht reif. Und auch die Musik müsste sich anpassen, so dass die variablen Anforderungen an die Akustik nur so variabel wären, wie dies die Saaltechnik leisten kann. (Übrigens: Elektronische Lösungen funktionieren nicht; trotz aller Versprechungen gibt es bislang nicht annähernd eine überzeugende elektronisch imitierte Saalakustik.)

Im Projekt "movements" denke ich in eine andere Richtung: Ich plane, dass Musik in verschiedenen Räumen gespielt wird und dass das Publikum auf fahrbaren Plattformen durch diese Räume gefahren wird. Das Publikum erlebt dann in einer Reihenfolge verschiedene Räume, darin verschiedene Musik und Überlappungen verschiedener Musiken in verschiedenen Räumen. Das Publikum wird auf Plattformen gefahren, läuft also nicht selbst muss sich also nicht orientieren, sondern kann sich ganz dem Hören hingeben.

Die Komposition wird aufgeteilt und die verschiedenen Teile (Instrumente, Instrumentengruppen, ...) werden gleichzeitig in verschiedenen Räumen gespielt. In jedem Raum ist das Verhältnis zwischen Musik und Akustik anders. Der Raum wird bewusst als Teil der Komposition wahrgenommen. Die Komposition beinhaltet das Bewegtwerden der Besucher, bezieht die verschiedenen Hörorte ein und auch, wie die ganze Musik (oder Teile davon) wann wie gehört werden. Sie plant ein, dass die Gäste Verschiedenes hören, weil sie an unterschiedlichen Orten sind. "Komponieren" bedeutet hier mehr als eine Partitur zu entwerfen und sie den MusikerInnen zur Interpretation zu übergeben. Es bedeutet auch klangliche Raumplanung. 

Es darf als wahrscheinlich eingeschätzt werden, dass dies nicht eine/n überpotente/n KomponistIn zur Folge hat, der noch mehr kontrolliert als schon früher; vielmehr bedeutet es wahrscheinlich, dass die MusikerInnen in den Entstehungsprozess eines Werks stärker einbezogen werden. Denn das Lauschen-vor-Ort impliziert das Experiment. Und dafür "braucht" es die MusikerInnen. Komponieren wird dann in der Entstehung vielleicht eher ein Experimente-Entwerfen und Experimente-Auswerten.

Das Bewegt-Werden von MusikerInnen und ZuhörerInnen birgt ein weiteres Potential: Das Publikum kann auch durch ein Ensemble gefahren werden und so ins "Innenleben" des Klangkörpers hineinlauschen. Das kann besonders interessant sein, wenn MusikerInnen im Aufführungsraum bewusst und speziell platziert sind.

30. Dezember 2022 Bühne, Bildschirm und Musik

Es gab die grosse Zeit der "vorzweidimensionalen" Bühnen. (Selbstverständlich sind Bühnen selbst Räume. Weil das Publikum aber nur eine "Aufsicht" auf diese Räume hat, sie nicht "umhüllend" erlebt - nicht drinnen ist - erlebt es sie nur bedingt als Räume.) Dann kam die echt-zweidimentionale Leinwand, dann kam der Bildschirm, bald wird die Brille vorherrschend sein. Naja, die Netzhaut des Auges ist auch zweidimensional - diese ganze Entwicklung hat im Zeitalter des Auges eine gewisse Konsequenz.

Kürzlich sass ich in einem unterkühlten Raum. Um etwas Gemütlichkeit zu schaffen, wurde ein Sofa hingestellt und auf einem Bildschirm war ein Feuer zu sehen. Jetzt, beim Schreiben, sitze ich vor einem echten und wirklich gemütlichen Feuer. Es wird nicht ersetzbar sein durch Bildschirme, nie. Ebensowenig wie das ganze "Metaverse" nie die echte Welt ersetzen können wird, auch wenn es manchmal behauptet wird. Das Zweidimensionale kann das Dreidimensionale nie ersetzen; dies zu glauben ist vielleicht einer der grossen Irrtümer unserer auf das Auge fixierten Zeit: Was fürs Auge gelten mag, gilt nicht fürs Leben.

Und eigentlich auch nicht für das Hören. Denn das Hören funktioniert nicht "per Brille"; es gibt keine Hörnetzhaut. Das Gehör kann plastischer wahrnehmen als das Auge. Es hört immer im und mit dem Raum. Sollte Musik deshalb nicht besser in komplexen Raumsituationen aufgeführt werden als (durch visuelles Denken dominiert) "mit Aufsicht" auf eine Bühne? Musik, diese "Hörkunst", sollte sie nicht eine genuin dreidimensionale Kunst sein, sollte sie nicht das Lauschen-im-Raum immer neu erkunden? 

Auf Bühnen eingepfercht wurde das räumliche Potential von Musik bis heute wenig entwickelt. Musik-auf-Bühnen war und ist ein bisschen wie ein Zoo: Die Tiere können hier nicht frei leben. 

Wäre es nicht an der Zeit, umzudenken, dies zu ändern? Der Weiterentwicklung von Musik und den räumlichen Differenzierungsmöglichkeiten des Gehörs zuliebe? Wäre es nicht an der Zeit, Musik nicht "extrahiert vom Raum" zu denken, sondern "den Raum implizierend"?

Es gab eine historische Entwicklung von Tonhöhen und -dauern hin zu Dynamik und Klangfarben. Das Komponieren mit Klangfarben ist nicht ein Komponieren ohne Tonhöhen. Es ist ein komplexeres Komponieren, das Tonhöhen, -dauren, Dynamik und Klangfarben zusammenfügt. 

So könnte es mit den Raum auch sein: Er könnte zu einem Teil des Kompositorischen Entwurfs werden. Es könnte immer mehr Beispiele von Musik geben, die man nur "im Raum" original empfinden kann. Denn, wie gesagt, das Gehör "will" im Raum hören. So wie es ein Zugewinn an Sinnlichkeit war, Dynamik und Klangfarben ins Komponieren zu integrieren, so wäre der sinnliche Genuss noch grösser, wenn Kompositionen konsequent auch Räumlichkeit von Musik in ihrer ganzen Komplexität einbeziehen würde.

28. Dezember 2022 Geräusch und Ton und Kontext

Stellen wir uns einen schnarchenden Mann vor, dazu einen Kontrabass, der die Schnarchgeräusche imitiert, verziert, verändert usw. Es könnte sich ein klanglich durchaus vielseitiges Duo bilden. 

Aber wahrscheinlich nicht auf einer Theaterbühne; hier scheint mir die Wirkung billig, bestenfalls drollig, sofern die "Szene" nicht perfekt eingebettet ist. Wohl auch nicht auf einer Musikbühne. Hier drohte mir ein solches Zusammenspiel peinlich zu werden, wenn es musikalisch nicht perfekt umgesetzt wäre - aus dem Schnarchen also minutiös eine abwechslungsreiche Komposition gestaltet wäre. In einem Film hingegen kann ich mir eine solche Situation gut vorstellen: Nachts, irgendwo weitab eine Hütte, darin ein Licht, ein Schnarchen und als Filmmusik dazu ein Kontrabass.  Spätestens seit Tarkowskis Filmen sind Meisterstücke realisiert, in welchen die Welt der "Realgeräusche" mit der "Musikwelt" verschwamm. Eine live Performance wiederum, worin ein Kontrabassist zum Beispiel in einem Schlafsaal improvisierend auf jedes Schnarchen reagiert und so eine Art unfreiwilliges Duo bildet (in welchem nur der eine bewusst "mitspielt" der andere ja schläft) kann ich mir wiederum gut und heiter vorstellen.

Warum ist das Duo auf der Bühne kompliziert?

Der Grund liegt in der Wahrnehmung von Räumen: Im Film sind sowohl der Raum wie auch die Situation darin künstlich (auch wenn sie vorgeben real zu sein). Sie sind zweidimensional "verkürzt" - bei aller Illusion können sie ja gar nicht real sein. Bühnen, ob Konzert- oder Theaterbühne hingegen sind reale Räume; in welchen künstliche Situationen geschaffen und erwartet werden. Der Schlafsaal schliesslich ist ein Realraum; in welchem keine künstliche Situation erwartet wird. 

In Hausmusik wandelte ich Alltagsgeräusche sukzessive in instrumentale Töne um: Aus Papierrascheln wurde ein Staubsaugergeräusch, das schon etwas tonhaft war und dessen Ton dann von einer Violine übernommen wurde. Hätte man das Papier, den Staubsauger und die Violine auf der Bühne gesehen, wäre die Wirkung theatralisch gewesen. Man sah sie aber nicht, hörte nur wie sich das "reine Geräusch" in fernen Räumen sukzessive in einen Instrumentalklang verwandelte. 

22. Dezember 2022 Hörort und Perspektive

Visuelle und auditive Sinnesreize ergeben unterschiedliche Raumwahrnehmungen. Das Gehirn konstruiert jedoch "einen einzigen Raum" und passt die Sinnesreize an, öfters die auditiven als die visuellen. 

Es ist ein Grundproblem der visuellen Raumwahrnehmung, dass der dreidimensionale Raum auf der Netzhaut zweidimensional abgebildet wird - aber es ist auch die Voraussetzung, dass bildende Kunst und Fotografie überhaupt möglich wurden. Monokuläre (Akkomodation, Linearperspektive, relative Grösse, Verdeckung, Schatten, Luftperspektive, Bewegungsparallaxe) und binokuläre Mechanismen (Parallaxe, Konvergenz) helfen, dieses grundlegende Problem teilweise zu kompensieren. Weil das Auge nur nach vorne sieht (man also immer nur die Hälfte des Raums sieht), impliziert "Raum" in der visuellen Wahrnehmung zu einem guten Teil die Erinnerung dessen, was man vorher gesehen hat. Der Betrachter ist immer hinter allem was er sieht, denn die Lichtstrahlen aller gesehenen Objekte fallen in den Augenlinsen zusammen; und der Kopf ist hinter der Linse. Um über einen Raum "einen Überblick zu haben", ihn als Ganzen zu sehen, setzt man sich am besten in eine Ecke. Einen "Raum" sieht man nur, wenn Licht hinein fällt und an den Gegenständen reflektiert wird. Der Beobachter sieht die relative Lage der Gegenstände zueinander (so auch möglicher Wände) und zum Beobachter und ihre Form nur aufgrund von Lichtreflexionen. In der Natur ist die Sonne das hellste Objekt, alles andere reflektiert Sonnenstrahlen, je mehr Reflektionen, desto weniger Licht (Luftperspektive). In künstlerischen Situationen (mit Kunstlicht) gilt diese Naturregel oft nicht.

Mit dem räumlichen Abbild in einem Ohr scheint es zunächst noch schlimmer; hier gibt es nicht einmal eine zweidimensionale Netzhaut; nur der Rhythmus und die Tonfrequenzen werden unmittelbar in Nervenreize umgewandelt. Schallwellen sind jedoch viel langsamer als Lichtwellen, ihre Geschwindigkeit ist sinnlich "erfassbar". Eine Schallwelle kann zuerst auf das rechte und dann auf das linke Ohr treffen und das Gehör kann diesen Zeitunterschied erkennen (binaural). Zudem kann es Echoeffekte wahrnehmen, während das Auge den Zeitunterschied zwischen direktem und reflektiertem Licht nicht erkennt. Distanz kann das Gehör durch den Anteil an Obertönen wahrnehmen (dies kann man mit der Luftperspektive vergleichen - die relative Abnahme der hohen Audio-Frequenzen mit wachsender Distantz entspräche somit in etwa der relativen Abnahme des langwelligen Lichts). Es gibt keine Augenmuschel, aber eine Ohrmuschel; in ihr werden Schallwellen je nach Richtung anders gebeugt und haben dann eine charakteristische  "Färbung": Ein Ton-von-hinten klingt im Innenohr (individuell!) etwas als einer von vorne. Statt der relativen Grösse (Auge) nimmt das Gehör Dynamikunterschiede und Klangfarbenunterschiede wahr und kann daraus auf Distanzen schliessen. Schatten und Verdeckungseffekte sind für das Gehör komplizierter zu erkennen als für das Auge, weil (besonders langwellige) Schallwellen gebeugt werden können. Das Gehör kennt (im Unterschied zum Auge) keine Perspekitve: Man kann zwei Parallelen sehen aber nicht hören und es gibt ja nicht einmal einen zwei Meter langen Ton. Statt dessen unterteilt das Ohr (erneut im Unterschied zum Auge) vereinfachend gesagt drei ineinandergeschachtelte Sphären: Das Nahfeld (Geräusche die nicht im Raum, sondern nur am und im Körper hörbar sind), der Raum in dem sich die Person befindet (Zimmer in einem Haus, Wald, ...) und der Raum, der diesen Raum umgibt (Strasse ausserhalb des Hauses, Luftraum über dem Wald). Den Raum (Raumakustik, Raumgeometrie) in dem sich eine Person befindet, kann das Gehör ganzheitlich wahrnehmen. Das Gehör nimmt 360° wahr, der "Hörer" empfindet sich "mittendrin", nicht ausserhalb wie beim Sehen - er hört sich an einem "Ort im Raum". Um in einem Raum möglichst viel zu hören, muss man sich in die Mitte setzen. Anhand des Direktschalls kann man die Richtung erkennen, aus welcher ein Geräusch kommt; die Relation von Direktschall zu reflektiertem Schall gibt Auskunft über die Akustik eines Raums. Aufgrund von Schallreflexion die Form von Gegenständen zu erkennen, braucht viel Übung. Es gibt aber Blinde, die dies erlernt haben. Das Ohr hört über 12 Schall-Oktaven, das Auge sieht nur über eine Licht-Oktave. Tiefe Töne verhalten sich im Raum anders als hohe. Auditive Raumwahrnehmung hat viel damit zu tun, dass das Gehör fein differenziert und aus den Unterschieden von hohen und tiefen Tönen Rückschlüsse auf den Raum zieht. Es gibt keine "akustische Sonne", hingegen "leuchtet" alles, was Geräusche produziert (und es leuchtet rhythmisch). Durch Schall erhält das Gehör Informationen über das Material worin der Schall erzeugt wurde, während das Auge immer nur die Oberfläche sieht: Eine Holzglocke kann man silbrig anmalen, so dass sie aussieht wie eine Silberglocke; dennoch klingt sie wie eine Holzglocke. 

Das Ohr kann physiologisch nicht fokussieren wie das Auge. Wenn man ein Geräusch "heraushören" will, braucht es eine besondere Gehirnleistung. Während es für das Sehen kein Problem ist, auch sehr nahe zueinander stehende Gegenstände plastisch voneinander zu differenzieren, verschmelzen Geräusche und besonders Töne in der auditiven Wahrnehmung (Orchestereffekt) zu grösseren Einheiten. 

Ist es nicht faszinierend, wie unterschiedlich die beiden Fernsinne "Raum" verarbeiten? Wenn man Raum nur mit den Ohren oder nur den Augen wahrnimmt, wird der Unterschied offensichtlich. Im Alltag macht das wenig Sinn, kann sogar gefährlich sein. In künstlerischen Projekten aber ist eine solche Trennung möglich (die Gäste können sich verlassen, dass für sie Sorge getragen wird). Man kann dann einige Verwirrung stiften und gerade mit Täuschungen der Sinne zeigen, welche immense Rolle Erinnerungen und Gewohnheiten bei der Raumwahrnehmung spielen. So kann gezeigt werden, wie stark die Wahrnehmung durch Erinnerungen, Erwartungen und Imaginationen geprägt ist.

21. Oktober 2022 Komponieren und Perspektivenwechsel

Eine Komposition verfasse ich üblicherweise in verschiedenen Phasen. Am Anfang stehen meist "Erkundigungen": Klangexperimente, Ortssuchen, Forschungen zu musikalischen Formen, und so weiter. Die Ergebnisse meiner Erkundigungen fliessen danach in eine erste Kompositionsskizze.

Wenn ich in letzter Zeit und besonders seit dem HAUS-Projekt von einem "Perspektivenwechsel" spreche, meine ich damit, Rückmeldungen von MusikerInnen oder anderen Personen in den Kompositionsprozess einzubeziehen. 

Zum Beispiel experimentiere ich, wie sich Vibrationen auf einer Schnur über angehängtes Papier akustisch verstärken. Statt daraus direkt in eine Partiturskizze zu erstellen, zeige ich die Ergebnisse nun aber zuerst Musikern oder sonstigen Interessierten und spreche mit ihnen über verschiedene Papiere, Schnüre, Aufhängungen und Spannungen und so weiter.

Ihre Rückmeldungen und Anregungen nehme ich in der Partiturskizze auf. Vielleicht verwerfe ich aufgrund der Rückmeldungen eine Idee (die niemand versteht) oder weite eine andere aus? Vielleicht habe ich sogar eine neue Idee dazu gewonnen? Vielleicht haben meine Ideen durch die Gespräche an Kontur gewonnen oder sich verändert?

Keineswegs ist mein Kompositinosprozess durch diesen "Zwischenschritt" gestört. Im Gegenteil: meine musikalische Gedankenwelt wird erweitert und angeregt. 

Und es zeigt sich, dass Musiker und Interessierte Freude an meinen kleinen Demonstrationen haben, meinen Experimenten mit Neugierde lauschen und sich gern als Teil in meinem Kompositionsprozess sehen. 

Der "Perspektivenwechsel" regt nicht nur mein Komponieren an, er macht auch Spass.

13. September 2022 Lautstärke und Volume

Wenn ein Musiker laut oder leise spielen soll, steht in der Partitur forte oder piano. "Forte" heisst aber auch kräftig, "piano" heisst auch behutsam. Lautstärke im Musikerspiel bedeutet nicht nur verschiedene Decibel, denn die Klangfarbe ändert sich, wenn der Cellist den Bogen stärker drückt, die Klarinettistin stärker bläst. Der Musiker, der die Lautstärke ändert, braucht nicht nur mehr oder weniger Kraft sondern auch Aufmerksamkeit für sein Klangresultat. Dynamik und Klangfarbe sind komplex und unzertrennlich aneinander gebunden.

Wie banal klingt das "Volume" in elektronischer Musik dagegen! Ohne physischen Bezug zum Klangresultat (Bewegung mit Anstrengung, Behutsamkeit, Streichen, Pusten, Drücken, ... ) wird ein Regler verschoben. Mit dem Volume ändert sich die Klangfarbe kaum -  dieselbe Klangfarbe mit mehr Decibel. 

Das elektronische "Volume" klingt deshalb oft unorganisch und dann in gewisser Weise sogar unmusikalisch, weil es den "physischen Gesetzen" der durch Musiker gespielten Musik nicht folgt.

Elektronische Musik könnte sich, wenn sehr fein gehört, dennoch in live Musik einbinden, diese ergänzen und klanglich erweitern. Warum nur tut sie es so selten? 

12. September 2022 äusseres und inneres Hören

Wer hört sich nicht beim Lesen innerlich den Text sprechen? Es kann sein, dass äussere Geräusche zu laut sind, stören, so dass man diese innere Stimme beim Lesen nicht mehr hören kann. Es scheint dann so etwas wie eine Art Lautstärke Wettbewerb zwischen den äusseren Geräuschen und der inneren Stimme zu geben.

Ein musikalisch-akustisches Experiment in einem Bergwerkstollen (bei völliger Dunkelheit und absoluter Geräuschfreiheit) funktionierte folgendermassen: Ein Sänger sang eine kurze Melodie und repetierte diese jeweils nach einer kurzen Pause. Dabei entfernte er sich immer mehr von den HörerInnen. Seine Stimme war also immer leiser hörbar (obwohl er immer gleich laut sang). Irgendwann war seine Stimme so wenig hörbar, dass man die Melodie aktiv mitimaginieren musste, um sie zu verfolgen. Und irgendwann hörte man seine Stimme nicht mehr und imaginierte sie nur noch. Ein Messgerät könnte Klarheit schaffen, die menschliche Wahrnehmung nicht. 

28. August 2022 Musik an Orten

Es war eine frühe Idee beim Festival ZeitRäume Basel: Musik an ungewohnten Orten zu spielen. Sie zu dem Menschen bringen, sie in andere Kontexte setzen. Man darf sagen: ZeitRäume war ein bisschen vor dem Trend. In den letzten Jahren hat diese Art zu veranstalten allgemein zugenommen.

Musik an ungewohnten Orten zu veranstalten birgt ein künstlerisches Potential. Nur, was nun so allgemein veranstaltet wird, hat damit wenig zu tun. Kein Zusammenhang zwischen der Musik und dem Ort: keine akustischen Überlegungen, keine instrumentalen Anpassungen, keine atmosphären Übereinstimmungen oder Gegensätze zwischen dem Ort und der Musik. Oft werden klassische Musik oder Pop "irgendwo" in anderer Kulisse aufgeführt, irgendwelche "Repertoire-Stücke" vor einem Sonnenuntergang oder an einem See. Es ist dann ein bisschen wie Openair-Kino; eine besondere Umgebungs-Kulisse als Kick. Damit werden "einfache Gefühle" bedient, Kitsch. Musik ist dann weniger "absolut". Man könnte beim Konzert vielleicht auch Popcorn essen oder während der Aufführung plaudern, warum nicht noch einen Koch ins Projekt einbeziehen? Und das Publikum kann so durchaus einen unterhaltsamen Abend verbringen, oberflächlich halt.

Künstlerisch gesehen ist es eine vertane Chance. Im Schnittbereich von Musik und Umgebung können das musikalische Empfinden und die Wahrnehmung des Orts verstärkt - das Erleben bereichert - werden.

Ein solches "Gesamtkunsterlebnis" ist künstlerich eine Herausforderung, es addiert sich nicht einfach aus Musik und Ort. Vielmehr verlangt es einen besonderen Aufwand, den Zusammenhang zwischen der Musik als "raumfüllende" Kunst und der Umgebung, dem "Gefäss" zu suchen: dem Ort. Wie sieht es vor Ort aus wie klingt es, was sind andere Gegebenheiten, die Architektur, die Landschaft; gibt es eine relevante Geschichte? Die Charakteristika eines Orts zu finden braucht Zeit und Feingefühl, die Musik darauf anzupassen (vielleicht besondere Werke zu suchen oder gar neu zu komponieren) braucht Phantasie und Fachkenntnis. Will man die Veranstaltung so gestalten dass ein Mitklingen-des-Ortes und ein Räumliches-Eingliedern-der-Musik möglich werden braucht es ein lokales Engagement.

20. August 2022 Musik im Raum oder räumliche Musik? Die Sphäre und movements

Vereinfacht könnte man sagen: Wenn Musiker im Raum verteilt spielen, entsteht räumliche Musik. Musik könnte dann als das von der Musikerperson abstrahierte, in sich selbst räumliche und sich zudem in den architektonischen Raum einfügende Klanggebilde verstanden werden: die Sonosphäre. (Sie ist mit dem architektonischen Raum nicht identisch!) Nach diesem Verständnis könnte man Musiker im Prinzip durch Lautsprecher ersetzen - ein Weg, der ja auch häufig beschritten wird. 

Ist aber nicht eine Ambivalenz interessanter: Die im Raum verteilten Musiker ebenfalls als Personen "mitzudenken" und sie als musizierende Personen zu "inszenieren"? "Inszenieren" nicht in einem theatralischen Stil (denn die meisten Musiker können nicht Theater spielen und der "theatralische Raum" ist ein anderer). Auch nicht in einem tänzerischen Sinn (denn eine "körperliche Begegnung" von Musikern würde wohl eher ablenken; Musiker sollen auf ihre Musizierbewegungen konzentriert sein). Vielmehr eben in diesem besonderen "Musiker-Sinn": Musiker kommunizieren nicht nur über Musik, akustisch und über die Ohren miteinander, sondern auch über Gesten, mit dem Atem. Dabei werden sie geleitet durch Kompositionen und ihrem gemeinsamen Verständnis davon oder "sozial" in einem Improvisationssetting. Ihre gegenseitige Abstimmung erfolgt ständig und in Bruchteilen von Sekunden und dabei eben wechselnd über verschiedene Sinne; sie ist immer auch sozial: wer bestimmt, wer folgt. Ab zwei Musikern bildet sich ein "Ensemble": Es klingt als feines, raummusikalisches Gebilde (eben die Sonosphäre) wie es gleichzeitig und ebenso auch ein interaktives, soziales Gefüge ist (und vom Publikum übrigens auch als solches wahrgenommen wird). Mit dem Publikum kommunizieren die Musiker ja übrigens auch direkt; nur so kann die besondere Konzertatmosphäre entstehen.

"Raum" wäre, so verstanden, über den architektonischen Raum und die Sonosphäre hinaus auch ein sozialer Raum. Selbstverständlich interagieren und changieren und überlagern sich diese "Räume" ständig. Mich interessiert nun vermehrt und besonders dieser musikalisch "soziale Raum". Ich versuche einen Begriff zu finden. Vielleicht sollte ich von "Sphäre" sprechen? Der Begriff "Sphäre" scheint mir mehr zu beinhalten als Musik, Klang oder Architektur. Er scheint die sozialen Interaktionen einzuschliessen. Besonders wichtig ist mir, dass der Begriff "Sphäre" ebenfalls ein räumliches Gebilde ist. Es geht mir nicht in erster Linie um die Art der sozialen Interaktionen, also nicht darum ob zum Beispiel ein gemeinsames Atmen der Musiker besser ist als ein kurzer gegenseitiger Blick. Ich interessiere mich für das "Raumgebilde Sphäre", für diese unsichtbare und fragile Zauberwolke mit seiner so komplexen räumlichen Ausdehnung, die physikalisch nicht so recht beschreibbar ist. Es geht mir nicht so sehr um die Frage, wie eine Sphäre entsteht. Eher: Wann entsteht sie? Was und wen schliesst sie ein? Wohin dehnt sie sich im physikalischen Raum aus und wie interagiert sie mit ihm? Hat sie überhaupt eine messbare räumliche Ausdehnung? Kann sie elektronisch übertragen werden? 

Mit meinen Untersuchungen will ich das architektonische und sonosphärische Raumverständnis ergänzen, das ich in den ersten vier Projekten der Leichtbautenreihe entwickelt habe, ergänzen, es nicht ablösen. "Sphären" gehören zum Forschungsgebiet von "movements". Ich werde mich die nächsten Jahre auf dem Hintergrund der bisherigen Forschungen der Leichtbauten-Reihe vertieft damit auseinandersetzen.

 

7. August 2022 Mehr als eine Faszination am musikalisch-akustischen Raum

"Was fasziniert Dich als Komponisten am Raum?" Eine einfache Frage. Die Antwort könnte ebenso einfach sein: "Mich fasziniert, dass ich ständig "Neuland" entdecke: Musikalisch-Kompositorisches, das noch brach liegt, das ich erkunden kann ohne damit andere Komponisten zu imitieren."

Aber die Frage hallt länger nach. 

Wahrnehmung hat mit Gewohnheit zu tun. Der Hörer hört nur, "worauf er hört" - Wahrnehmung hat mit Bildung zu tun. Es reicht deshalb nicht, wenn ich Programmeinführungen schreibe und darin sage, wie man meine Stücke hören soll. Es reicht nicht, wenn ich räumlich komponiere und hoffe, dass die Besucher schon merken werden, wie sie hören sollen. Nein, ich muss den WEG in meine dreidimensionale Hör-Welt in meinen Kompositionen aufzeigen. Das heisst: Momente komponieren, die ganz klar machen, was ich meine. Ich muss Schritt für Schritt aufzeigen, wie man zum räumlichen Hören meiner Kompositionen kommt; die Gäste an der Hand nehmen. Das muss trick- und abwechslungsreich geschehen, mit viel Phantasie, so dass sie während einer Aufführung neugierig werden und immer von Neuem Lust bekommen, musikalisch und gleichzeitig auf den Raum zu hören. Ich verfolge also ein pädagogisches Anliegen, meine Werke an alle HörerInnen zu vermitteln. 

Ich sehe keine Hoffnung, dass im klassischen Musikbetrieb eine Sensibilisierung des räumlichen Hörens erfolgen könnte; das will da niemand. Mich treibt eine Mangelempfindung an. Es reicht nicht, Partituren zu schreiben. Ich muss darüber hinaus aktiv werden. Ich veranstalte neue Formate für zeitgenössische Musik und führe Konzerte an ungewöhnlichen Orten durch. Ich habe studio-klangraum gegründet und das Festival ZeitRäume Basel; und lanciere mit "movements" eine neue künstlerische Initiative.

Und ich möchte - das ist das langfristige Ziel der Leichtbautenreihe - einen Beitrag zu einer modern Musiktheorie leisten, Musiktheorie um den Parameter Raum ergänzen.

Ich bin also nicht nur fasziniert vom räumlichen Komponieren. Sondern ich habe einen Eifer, die Idee der räumlichen Musik zu verbreiten.

1. Mai 2022 Freies Veranstalten zeitgenössischer Musik im Jahr 2022

Vom finanzielle Projektumfang kann man "HAUS" (2022) mit "Marienglas" (2010) vergleichen. "Marienglas" habe ich persönlich veranstaltet; "HAUS" wird von studio-klangraum veranstaltet. Es wäre nicht mehr möglich, ein Projekt mit einem solchen finanziellen Volumen persönlich zu organisieren. Die Stiftungsreglemente und das Vertrags- und Versicherungswesen würden es nicht mehr zulassen. Diese Professionalisierung hat Vorteile. Die MusikerInnen erhalten AHV, das Projekt ist gegen Haftungsfälle geschützt. Die professionelle Musik ist aus der Arbeits-Halblegalität raus, in der sie früher steckte. 

Der viel grössere Organisationsaufwand bindet zeitliche und finanzielle Ressourcen. Könnte man ein grosses, freies, künstlerisches Projekt mit einem Startup vergleichen? Zur Umsetzung einer Idee  braucht es Geld, Vernetzung und ein neues Team?! Ein freies Projekt ist jedoch zeitlich begrenzt, es gibt nur befristete Arbeitsverhältnisse, das Team bleibt lose.

In Ensembles ist das Ensemble zur Hauptidee geworden. Aus der Frage: "Wie findet man für diese Idee ein Team?" ist die Frage geworden: "Welches Projekt verfolgen wir mit unserem Team?" In Ensembles kann die Qualität der Umsetzung gesteigert werden, hingegen leidet manchmal die Kreativität. Neue Ideen sind ja eine Art Zwang geworden um das Ensemble am Leben zu halten. Deshalb holen sich Ensembles Ideen oft von aussen. Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Ensemble "Vide", das sich für jedes Projekt neu zuammensetzt.

Freie künstlerische Projekte haben ein mediales Problem: Sie poppen aus dem Nichts auf und laufen Gefahr, dass man nicht auf sie aufmerksam wird. Wer kann - im heutigen, riesigen Kultur-Angebot - aufgrund von Mediennotizen schon entscheiden, was ihn interessiert? Freie künstlerische Projekte gehen im medialen "Kulturrauschen" oft unter. Das zeigt der Vergleich von "Marienglas" mit "HAUS": Während vor 15 Jahren ein Slogan wie "ein musikalisches Kopfhörerprojekt" reichte, um eine breite Neugierde zu wecken, war 2021/22 eine deutlich verbesserte und aufwändigere Kommunikationsarbeit dennoch zu wenig.

27. April 2022 Partituren für den Raum?

Es gibt die Anektote, einst sei der Dalai Lama nach einem Besuch einer Haydn-Symphonie nach seiner Meinung gefragt worden. Er soll geantwortet haben, die perfekte Organisation des Orchesters habe ihn fasziniert - Dalai Lama, der Technikfan. Als ich einen Firmenchef nach einem gemeinsamen Konzertbesuch fragte, sprach er von seiner Begeisterung für den Dirigenten - sein Fokus leuchtete mir ein. Viele Konzertbesucher schauen gern den MusikerInnen zu. Oder sie interessieren sich für den gesellschaftlichen Anlass. MusikerInnen ihrerseits hören alle instrumentalen Details ihrer KollegInnen; ihre Finger "zucken" mit, wenn sie zuhören. Musiktheoretiker hören geschichtliche Zusammenhänge. Komponisten interessieren sich für die "Machart" der Werke: Formgebung, Melodieführung, Instrumentalbehandlung der Komposition. Und so weiter. Das hat alles keinen Einfluss, wie eine Komposition notiert werden soll. 

Ich höre zusätzlich, wie sich eine Komposition in einer Umgebung entfaltet und wie sie die Umgebung musikalisch "anregt". Deshalb veranstalte ich Konzerte in Industrieräumen, in unterirdischen Bergwerken, in Ateliers, in Wasserreservoirs, in Schwimmbädern. Ich lasse die ZuhörerInnen auf Drehstühlen sitzen, Kopfhörer anziehen, die Augen schliessen. Und so weiter. Das hat eine Konsequenz für die Notation. 

Wenn eine Partitur das sein soll, was benötigt wird, um ein Stück ohne Beisein des Komponisten aufzuführen, gehören zu meinen Partituren Raum- und Aufstellungspläne, Texte und zusätzlich wohl auch ein Film. Ich erstelle deshalb Kunstfilme (keine Dokumentarfilme) und versuche darin, etwas über die Komposition-im-Raum auszudrücken. Denn Raum ist immer auch visuell. Diese Filme sind ein aufwändiges Unternehmen und ich weiss nicht, ob die Idee dieser Filme zielführend ist. Denn noch nie wurde eine meiner grossen Raum-Kompositionen ohne mein Beisein aufgeführt.

Was ich "brauche", sind MusikerInnen, die wie alle MusikerInnen hinsitzen und die Musik hinter den Noten verstehen wollen - die im klassischen Sinn den Notentext interpretieren wollen. Sie müssen aber noch zusätzlich etwas tun: Sie müssen den Ort inspizieren, an dem sie ein Stück aufführen wollen. Um ein Beispiel zu nennen: HAUSMUSIK soll in "Durchgangsräumen" aufgeführt werden, "so dass stets die Frage "Worin?" aktuell ist". Der Durchgangsraum wird aufgrund seiner Geometrie nicht nur die Interpreten-Aufstellungen und aufgrund seiner Akustik den Gesamtklag bestimmen, er ist auch ein Instrument: Die Interpreten müssen Orte darin suchen, die interessant klingen, wenn man zum Beispiel auf eine Wand schlägt oder am Boden herumstampft. Die Musiker müssen sich zuerst fragen, was für sie im Raum "interessant" ist und dann ihr Stampfen und Schlagen auswählen, so dass zu einem musikalischen Akt wird. Das verlangt einen Mehraufwand. Das ist für die Interpreten spannend. Das erzeugt begeistere Publikumsrückmeldungen. Soviel ist nach den Aufführungen von HAUSMUSIK klar.

23. April 2022 ARCHITEKTURMUSIK und das Trakl-Gedicht "Der Traumwandler"

In ARCHITEKTURMUSIK geht es nicht um eine Interpretation des Trakl-Gedichts. Die Form des Gedichts bestimmt zwar diejenige der Komposition. Einzelne Bilder aus dem Gedicht werden zwar kompositorisch umgesetzt. Gewisse Klangfarben und Harmonieren sind zwar durch sprachliche Bilder angeregt; andere direkt aus dem Klang einzelner Worte geschöpft. Es finden sich also überall typische, aus der Kompositionstradition übernommene Vorgehensweisen. Insofern war das Gedicht durchaus ein Steinbruch für das Komponieren. Dies gehörte aber bloss zum "Nähwerk" und sagt nichts über das Verhältnis der Komposition zum Gedicht.

Die Idee der "double reality" ist älter als die Hinwendung zum Trakl-Gedicht. Erst in einem zweiten Schritt suchte ich einen Text. 

ARCHITEKTURMUSIK ist das Resultat einer langen, nicht nur kompositorischen Reflexion über Wahrnehmung (seit 2005 "Hinter einer Glaswand", dem ersten Kofhörerstück). Was ich erforscht habe, möchte ich nun zeigen: ARCHITEKTURMUSIK ist gleichzeitig eine Einladung ans Publikum, ebenfalls über Wahrnehmung nachzudenken (s. Text vom 15. April 2022).

"Alles Schauen ist gläubig, sonst dürfte man es nicht Wahrnehmung nennen", schreibt Hans Thoma 1918.

Mein Nachdenken über Wahrnehmung war desillusionierend: Ich musste "Tatsachen" als falsch erkennen (an die ich geglaubt hatte), musste Vieles was ich als Tatsache betrachtet hatte, als subjektive Wahrnehmung statt als objektive Wahrheit anerkennen, musste die Sinne und ihre Reize prinzipiell hinterfragen. "Rot" ist nicht rot, sondern eine elektromagnetische Welle, ein Ton objektiv eine Schallwelle die einen Nervenreiz auslöst. Das was ich als "Raum" wahrnehme entpuppte sich als Fantasiegebilde, das auf falschen Sinnesinformationen basiert. Mein Welt-Bild wurde infrage gestellt: "Wahr"-Nehmung? Täuschung, nur ein Theater der Sinne und der Phantasie. Mein Nachdenken erschwerte mir den "Glauben", wie Thoma schreibt, verunmöglichte ihn bisweilen. Das war (und ist) immer wieder eine rechte Trostlosigkeit.

Trostlosigkeit! Darüber sollte das Gedicht berichten. Auf meiner langen Suche begegnete ich schliesslich dem Trakl-Gedicht. Der Traumwandler irrt (einsam) in Sturm und Nacht. Sucht er seine vergangene Liebe? Er weiss es selbst nicht. Und wird verhöhnt. 

Das Verhältnis der Komposition zum Gedicht ist also in etwa Folgendes: Das Setting der Täuschungen auf der Bühne soll zum Nachdenken über die Wahrnehmung anregen. Idealerweise über die Vorführung hinaus, vielleicht erst einmal über Raumwahrnehmung (s. Text 15. April), vielleicht aber langanhaltend und grundlegend über Wahrnehmung allgemein. Das Trakl-Gedicht spricht von den Emotionen, die mein eigenes Nachdenken über Wahrnehmung begleiteten. Man könnte anfügen, dass das Gedicht insofern auch eine Warnung an den Konzertbesucher ist, dass unangenehme Emotionen lauern, wenn er zu lange über Wahrnehmung nachdenkt. Hier lauert ein Minenfeld.

15. April 2022 Wahrnehmung und Raum in ARCHITEKTURMUSIK

Raum ist wohl auch dann existient, wenn ihn niemand wahrnimmt. Auch wenn es keine Menschen gäbe, gäbe es wohl den Raum. So nimmt man das zumindest an; es spricht vieles dafür; die ganze Erfahrung eines Menschenlebens auf jeden Fall.

Was wäre, wenn man nur mit seinen Sinnen ausgestattet wäre und das Bewusstsein immer nur die unmittelbare Information der Sinne auswerten könnte? Das könnte kompliziert werden; denn mit Augen und Ohren sind zwei Fernsinne für die räumliche Wahrnehmung ausschlaggebend, die unterschiedliche Raum-Informationen liefern. 

Im Bewusstsein (und oft unter Zurechtbiegen der "reinen Sinnes-Datenlage") bildet sich ein einziger Raum ab. Der Erwachsene hat sich an diesen - ich nenne ihn mal "Alltagsraum" gewöhnt. Er hat die darin geltenden "Regeln" als kleines Kind durch anfängliche Fehler und viele Korrekturen "erlernt". Er betrachtet den "Alltagsraum" als eine Art Koordinatensystem oder Schachtel oder Relativsystem mit Erdanziehung, auf jeden Fall in Metern und Geschwindigkeiten messbar. 

Er nimmt wie gesagt an, dass dieser Raum-in-seinem-Bewusstsein (dieses Abbild im Kopf) mit dem Raum-den-es-auch-ohne-den-Menschen-gibt identisch sei. Das ist eine Täuschung. Aber im Alltag kommt der pragmatische Mensch damit durch: Sein "Alltagsraum" ist für den täglichen Gebrauch ausreichend (Verkehr, Orientierung, ...). Und wenn die Sinnesreize allzu offensichtlich unterschiedliche Informationen liefern, wie zum Beispiel bei einem Echo lacht er und hat sogleich eine Erklärung bereit. Wem wurde nicht als Kind erklärt, wie das Echo "funktioniert"?

Aber in einer Raum-Komposition ist die Frage eine künstlerische, nicht eine pragmatische. Es geht um die Raum-Wahrnehmung selbst. Ist es nicht bedauerlich, dass wir Menschen zugunsten unseres pragmatischen "Alltagsraums" die Sinnesreize zurechtbiegen, ja teilweise sogar ausblenden? Dass wir nicht willens, oder vielleicht oft nicht in der Lage sind, die stetigen Absonderlichkeiten, dieses eigentlich Absurde des Wahrnehmungsprozess im Schnittbereich der Fernsinne einfach so zur Kenntnis zu nehmen, so wie es ist?

Der Pragmatiker sagt: "Es geht ja gar nicht anders." Er hört (sieht nicht!) Schrittgeräusche und sagt: "Da steigt jemand die Treppe hoch." Niemand würde widersprechen. Als Komponist aber höre ich etwas anderes: wie sich der Hall der Tritte ändert, wie dieser sich verändernde Hall einen auf einen Raum oberhalb der Treppe hinweist, den ich noch nie betreten habe. Es scheint ein grosser Raum zu sein, denn die Tritte beginnen schon, darin widerzuhallen. Und so weiter. Und vielleicht war es kein Mensch der die Geräusche verursachte, sondern ein Lautsprecher, der die Geräusche imitierte?

Ich will in meinen Kompositionen von den Wundern dieser "anderen" auditiv bestimmten Raumwahrnehmung erzählen, den Gästen zeigen wie anders der auditiv wahrgenommene Raum sein kann. Und wie anders der visuell wahrgenommene Raum sein kann, wenn das Auge nicht so dominant wirkt. Kann vielleicht auch der Pragmatiker für eine gewisse Zeit Nicht-Realist sein?

Zu den live Musikern (eine Sängerin und zwei Musiker) und dem Bühneraum  werden in ARCHITEKTURMUSIK Spiegelungen der Musiker und des Bühnenraums gesellt. Ihr live Musizieren wird zudem durch eine Tonaufnahme ergänzt. Wenn sich live und Spiegelungen resp. Tonaufnahmen zu sehr gleichen, kann der Besucher nicht unterscheiden, was körperlich und was virtuell ist. Die Fernsinne sind dazu nicht in der Lage; nur der Tastsinn könnte den Unterschied erkennen. (Deshalb spreche ich in diesem Moment von einer "double reality".)

Die Sängerin verschwindet "vor den Augen" aller. Aber sie singt weiter - ist sie noch auf der Bühne oder hört man sie bloss im Kopfhörer? War sie vorher überhaupt da? Diese "double reality", diese offensichtliche Zauberei und Täuschung ist unterhaltsam. Aber darum geht es nicht. Ich verfolge mit diesen Spielereien wie gesagt ein künstlerisches Ziel. Die Täuschung ist nur mein Manöver. Ich will das Publikum darauf aufmerksam machen, dass seine Fernsinne - ich "beweise" es ja auf der Bühne - nicht zu einander passende, vielmehr gegensätzliche, widersprüchliche, unerklärbare Sinnes-Informationen liefern können.

Das Publikum soll staunen, sich "wundern". Mein Wunsch wäre aber, dass sich das Publikum der Absurditäten seiner Raumwahrnehmung nicht nur gewahr wird. Sondern dass es sich später daran erinnert und über das Erlebte zu reflektieren beginnt. 

Kann ich damit vielleicht einen längeren Denk-Prozess auslösen? Wer nämlich beginnt, über sein Wahrnehmen tiefer nachzudenken, wird nicht damit aufhören, auditive von visueller Raumwahrehmung voneinander zu unterschieden. Dies ist eher ein Anfang. Schnell gerät der Nachdenken in philosophische Probleme. Doch darüber will ich im nächsten Text schreiben.

18. März 2022 Gedanken zu LIT MARVEIL

Ein Gast sitzt auf einen Drehstuhl, schliesst die Augen und wird von einer/m SängerIn sorgsam gedreht (so dass seine Orientierung im Raum schnell verloren geht). Der/die SängerIn singt Lieder über Räumlichkeit, flüstert, spricht, pfeifft und unternimmt verschiedene musikalisch-akustische Aktionen, die das Hören-im-Raum vielfältig anregen, oder herausfordern, oder teilweise sogar etwas irritieren.

Die Gäste berichteten von ungewohnten räumlichen aber auch musikalischen Wahrnehmungen. Es braucht für das Hören von LIT MARVEIL keine Bildungs-Voraussetzung. Räumliches Hören ist unmittelbar, Drehen eine der einfachsten und urtümlichsten Bewegungen. 

Die Aufführungen in Sent und Baden wurden durch Vermittlungsprojekte flankiert. Einmal Primarschüler, das andere Mal Gymnasiasten experimentierten mit den Drehstühlen: Sie tätigten sich in wechselnden Rollen als Performer und Gäste. 

Sind denn SängerInnen, die doch geschult sind, sich auf der grossen Bühne zu präsentieren, überhaupt in der Lage, sich um einen Gast herum zu bewegen, fast im Stil eines Physiotherapeuten, und nicht sich selbst, sondern den Gast ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stellen? Ob auch Kinder und Jugendliche dazu in der Lage sind? SängerInnen, aber auch Kinder und Jugendliche - sie alle waren dazu in der Lage. Mehr noch: Sie hatten Freude, sich als Performer empathisch in die Situation des Gasts zu versetzen, imaginierend vorauszunehmen, was er wohl hören möge und ihr Handeln und Singen durch diese ihre Imagination steuern zu lassen. 

Nicht nur der Gast folgte Künstler wie normalerweise in einem Konzert, sondern der Künstler versuchte, den Gast persönlich wahrzunehmen. Die SängerInnen erzählten, jede Aufführung sei so individuell gewesen wie der Gast auf dem Drehstuhl. Die Gäste schätzten die persönliche Begegnung.

23. Januar 2022 Zur Verortung von Musik

Im heutigen Musikbusiness ist die "Verortung" der Musik meist "ein spätes Geschäft": Die Komposition wird irgendwo geschrieben. Die Einstudierung findet irgendwo statt. Die "Proben-vor-Ort" erfolgen im Normalfall erst kurz vor dem Konzert: Fast der ganze kreativ-musikalische Prozess ist dann losgelöst vom Ort der Aufführung, von seiner Architektur, seiner Geschichte, seinen Menschen. Und das hört man solcher Musik an, die erst im letzten Moment angekommen ist: Der Event bezieht sich nicht auf den Ort.

So veranstaltet ähnelt Musik einer Ware. Ein Buch ist ein Buch, ob es in einem Büchergestellt in einem Wohnzimmer steht oder auf einem Tisch in einer Halle liegt. Man könnte auch sagen: So veranstaltet ist Musik nur "Information". 2+2=4. Diese mathematische Gleichung ist richtig, ob man sie in einem Tunnel oder auf einer Autobahn denkt.

Musik ist nur eine kurze Erscheinung. Sie klingt und schon ist sie wieder verklungen. Ist Orts-Ungebundenheit also nicht ein Merkmal dieser ephemeren Kunst?

Tatsächlich! Es gibt sehr viele sehr faszinierende Kompositionen, die in ihrem Entwurf nichts mit einem Ort zu tun haben, die ortsunabhüngig ersonnen wurden wie ein Gedicht. 

Jedoch klingt Musik immer in einem Raum; sie füllt den Raum, ihr Klang hallt an den Wändern wider. Darin unterscheidet sie sich von einem Buch und von einem Gedicht. Der Klang von Musik verhält sich zu Architektur in gewisser Weise wie Licht sich zu Architektur verhält: Licht durchleuchtet ein Gebäude, die Räume. Licht macht Architektur sichtbar. Umgekehrt wird Licht in gewisser Weise selbst durch die Räume ausdifferenziert (sonst ist Sonnenlicht nur ein weisses Strahlen). Licht fällt in die Räume, wird reflektiert und absorbiert; Farben kommen zum Vorschein. In Schatten und Halbschatten sprechen Licht und Architektur vielfältig zueinander. Mit Musik ist das ähnlich: Musik klingt in Räumen, hallt in ihnen wider. Und umgekegrt wird eine Architektur durch Musik hörbar: Die fernen Räume, die Gänge, die kleinen Zimmer, die Ecken und so weiter. Architektur beherrbergt Musik, wird aber erst durch sie hörbar. Wenn Musik klingt, hört man nicht nur die Musik als klangliche Information, sondern immer auch die Räume. Durch Musik wird die Geometrie einer Architektur hörbar. Ohne Klangereignis ist Architektur für die Ohren nicht existent. Musik erweckt Architektur auditiv zum Leben. Und - das ist die grosse Chance, wenn sich die Künste begegnen: So wie Architektur der Musik erst die Möglichkeit gibt sich zu entfalten, kann Musik eine Architektur verzaubern.

Musik und Architektur können vielfältig zueinander sprechen. Eine Stimmigkeit zwischen Musik und Ort muss für jede einzelne Aufführung neu gefunden werden. Das ist aufwändig und hat manchmal einschneidende Konsequenzen für eine Veranstaltung. Deshalb ist es verständlich, dass pragmatische und kalkulierende Veranstalter dieser Beziehung oft kaum Bedeutung geben und dass sogar Musiker sich darum manchmal nicht kümmern. 

Es gab in der Coronakrise sogar eine Entwicklung, auch live-Musik ganz von der Architektur zu trennen: das Streaming.

Aber es war und ist vielleicht doch gerade eine Lehre der Corona-Krise: Nach kurzer Zeit haben Viele verstanden, dass Musik dadurch verarmt und dass so niemand mehr Lust hat, zuzuhören. Vielleicht besteht nun eine Chance, dass sich Veranstalter und Musiker Zeit nehmen und eine Sensibilität wieder entdecken? Paavo Järvi sagt, es sei wichtig, dass das Tonhalleorchester ständig vor Ort proben kann. Nur so könne es sich an den Ort gewöhnen, an die Feinheiten der Tonhalle. 

Und dies sagt er in Bezug auf Musik, die nicht für einen Raum komponiert wurde.

Welche Möglichkeiten ergeben sich erst, wenn Musik schon mit Architekturbezug komponiert wurde und dann auch noch mit Sensibilität verortet wird!

12. März 2024 Zur abstrakten Reinheit einer Komposition

Wer Schumann-Lieder-Partituren studiert hat, kennt diese leichte Betroffenheit, dieses leichte Fremdschämen ob all der Sängerinnen und Sänger, die auf der Bühne zwar ihr Bestes geben, aber mit all ihrer stimmlichen Trägheit und ihrem Schwitzen auf der Bühne doch nie an die kristallklare Absolutheit dieser Musik herangelangen werden. Dieser Musik kommt man mit der Lektüre der Partitur und der reinen musikalischen Vorstellung am nächsten. 

4. Januar 2022 Gebauter, sichtbarer und klingender Raum

Wie soll man die Aufmerksamkeit der Konzert-Besucher auch während dem Konzert auf den architektonischen Raum lenken? Denn das übliche "Konzert-Ritual" ist, dass die Besucher den Saal beim Betreten zwar bestaunen, die Architektur während dem Konzert aber vergessen. Das Licht hilft (das Verdunkeln des Besucher-Raums) und darauf ist auch die Musik angelegt: Sie nutzt zwar die Saal-Akustik aus, nimmt sonst aber keinen Bezug auf die Architektur. Sie geht ihre eigenen, "innermusikalischen" Wege. Sie wurde von den Komponisten oft "raumlos" entworfen (auf der Partitur als rein melodisch - harmonisches Gebilde ohne Bezug zum Aufführungsraum niedergeschrieben) und erfährt ihre Räumlichkeit also erst "sekundär" durch die Interpretation. Wenn die Aufmerksamkeit der Besucher aber auch während der Aufführung nicht ausschliesslich bei der Musik, sondern ebenfalls bei der Architektur bleiben soll, sind besondere, vielleicht bauliche Massnahmen nötig.

In der Leichtbauten-Reihe werden Pavillon artige, schnell auf- und abbaubare Raumkonstruktionen erfunden und errichtet, die diesen Zweck erfüllen, die Aufmerksamkeit-auf-die-Architektur wach zu halten. Sie sind neu und visuell attraktiv. Die Anordnungen des Publikums sind anders (keine parallelen Sitzreihen mit Blick auf eine Bühne). Die Musiker laufen andere Wege, die Hörrichtungen, die Akustik, der Ensembleklang, alles ist ungewohnt. Und das "Konzert-Ritual" an und für sich hat sich geändert: Denn die Erwartung des Publikums ist hier ja eine andere in Bezug auf die Musik; man nimmt an, dass es hier ein musikalisch-architektonisches Werk aufgeführt wird, das in irgendeiner Weise auf den Pavillon Bezug nehmen wird. Es gibt eine dialektische Erwartungshaltung: Wie beziehen sich Musik und Architektur aufeinander?

Das Ohr nimmt von derselben Architektur eine andere Geometrie wahr als das Auge. Das gehörte Raum hat eine andere Form als der gesehene Raum. Würde man die Augen schliessen, würde sich ein anderer Raumeindruck ergeben als wenn man die Ohren verschliesst. Beidemal nimmt man den gebauten Raum wahr. Der gebaute Raum ist gewissermassen eine Voraussetzung, die beiden Sinne liefern darüber aber unterschiedliche Informationen.

Einmal wird die Raum-Geometrie durch das Licht sichtbar, einmal wird sie durch Klänge hörbar. Die Physik der Schallwellen ist aber eine andere als diejenige der Lichtwellen. Lichtwellen verlaufen gradlinig, werden reflektiert oder absorbiert aber nicht gebeugt. Schallwellen hört man über einen viel grösseren Frequenzbereich. Tiefe Schallwellen können gebeugt werden - man hört um Ecken. Hohe verhalten sich etwas ähnlicher wie Lichtwellen. Welches Material absorbiert Licht, welches Schall? 

Nun ist man sich gewohnt, dass "Licht" Sonnenlicht ist. Es wäre - übersetzt in die akustsche Welt etwa mit weissem Rauschen zu vergleichen. Dieses würde am Morgen beginnen und bis am Abend rauschen, dann wäre "Rauschen-Nacht". "Klänge" jedoch sind Teil von Musik. Sie wandeln sich ständig. Hohe und tiefe Töne (mit unterschiedlicher Physik), verschiedene Klangfarben, Rhythmen. Die Musik selbst ist schon ein Ausdruck. Man hört schon auf sie selbst (als würde man in die Sonne oder den Mond schauen). Sie "beleuchtet" den Raum aber auch in ständiger Variation: Innerhalb des gebauten Raums entstehen durch die Musik, ich nenne es mal "Klang-Raum-Gebilde". Als "Klang-Raum-Gebilde" bezeichne ich die geometrische Form der Klänge in der Architektur. Wie gesagt: In einem Musikstück wandelt sich diese Form ständig. Und sie ist nicht nur von der Geometrie der Architektur sondern auch von den Aufstellungen der Musiker, abhängig. Und ebenfalls wie gesagt: Sie ist auch von von den Tonhöhen und Klangfarben abhängig. 

Das Interessanteste ist für mich als Komponisten ist das Aufeinandertreffen des gebauten, gesehenen und gehörten Raums. Das Herausarbeiten von Ähnlichkeiten und Unterschieden. 

Die Pavillons wurden und werden im Verlauf der Leichtbauten-Reihe komplexer: In "Chronos" war es ein Karussell, in "Gitter" ein Raum, der erlaubt, dass sich die Musiker dreidimensional um das Publikum bewegen. Bei diesen beiden Projekten spielte der äussere Raum (wohin die Pavillons gestellt wurden) und seine Akustik keine Rolle: Beide Pavillons erlaubten in gewisser Weise "abtrakt" spezielle Anordnungen von Musikern und Besuchern. In "Rohrwerk" und "Haus" spielt der äussere Raum eine Rolle, auch die Akustik: "Rohrwerk" soll in Innenhöfen stattfinden. Innenhöfe haben eine charakteristische Akustik. "Haus" spielt in drei Raumtypen (kleines Zimmer, Durchgangsraum und Aufführungsraum") mit verschiedenen Konnotationen, verschiedener Ausdehnung und verschiedener Akustik. "Movements" und "La Marionette", die beiden grossen letzten Projekte der Leichtbauten-Reihe gehen von komplexeren bewegten Hör- und Klangsystemen aus. 

2. Januar 2022 Zur Räumlichkeit von Tönen und Geräuschen

Der menschliche Geist kann Töne in einem harmonischen System ordnen. (Können das Tiere auch - können sie auch einen Dur-Dreiklang hören?) Vielleicht sollte man eher sagen: Der Mensch "kann" Töne verschiedenen harmonischen Systemen zuordnen. Ist jemamd musikalisch gebildet, erkennt er, was der Komponist gedacht hat - in welches System er Töne innerhalb eines Musikstücks harmonisch einordnen soll: modal, tonal (Dur, moll) atonal, ... . Der Geist ist dabei erstaunlich frei, er kann frei ein harmonisches System auswählen und die Musik darin ordnen. Komponisten wussten dies; sie haben mit Harmonien rumgetrickst, Erwartungen geschaffen, diese getäuscht, und so weiter. 

Geräusche hingegen werden vom Geist nur, dafür viel stärker als Töne im dreidimensionalen Raum geordnet. (Es gibt keine Harmonie der Geräusche.) Dazu kann man keine Ausbildung machen, kein Studium besuchen, keinem Unterricht folgen; jedes Kind lernt es, schon als Baby. Und jedes Tier kann es auch. Der Geräusch-Raum ist Alltag: "Irgendwo und irgendwann" hört man nicht ein "Musiker-Ensemble" das zusammenspielt und Töne zu Harmonien kombiniert, sondern eine Summe disparater Alltags-Geräusche oder Klangereignisse aus vielen Richtungen und in verschiedenen Räumen mit verschiedener Akustik. Während ich beim Entwurf der Leichtbauten-Reihe in Paris tagelang in meinem Studio sass hörte ich beispielsweise in regelmässigen Abständen das Rummeln der U-Bahn (das ganze Zimmer zitterte), nebenan (endlos) die Musik meines Nachbarn, im Hinterhof (zur falschen Jahreszeit) eine Amsel, vor mir das pulsartige Ticken meiner Uhr. Und so weiter. Die Geräusche hatten nichts miteinander zu tun. Dennoch hörte ich eine "dreidimensionale Geräuschkulisse" (Hörsphäre) um mich herum. Denn das Gehör und die Wahrnehmung ja generell können gar nicht anders, als Zusammenhänge zu machen, auch wenn die Einzelereignisse disparat sind. Diese Geräusche machten also die "akustische Atmosphäre" in meinem Studio aus. Und wie gesagt: Dieser Raum-der-Geräusche "irgendwann und irgendwo" ist dreidimensional geordnet, nicht harmonisch. Wichtig: Er findet nicht einem perfekten kugelförmigen Raum um das Ohr statt statt, sondern im gebauten (oder natürlichen) Raum statt. Er ist deshalb gewissermassen ein klingend-architektonisches Gebilde (dazu an anderer Stelle mehr), das dem gebauten Raum eingepflanzt werden kann.

Was ist aber passiert mit einem Geräusch, wenn es immer tonhafter wird? Wann kippt die Wahrnehmung und der Geist ordnet es nicht mehr im dreidimensionalen sondern im harmonischen Raum (ich nenne ihn auch den "innermusikalischen Raum")? 

In allen Kompositionen der Leichtbauten-Reihe gibt es dazu "Versuchsanordnungen". Ich habe ein eher einfaches Gedankenmodell zugrunde gelegt: Ans eine Ende einer Skala positioniere ich weisses Rauschen und nenne das "ein perfektes Geräusch" (wird nur im dreidimensionalen Raum gehört), ans andere einen Sinuston und nenne das "einen perfekten Ton" (wird nur im harmonischen Raum gehört, kann nicht geortet werden). Alles Klingende spielt sich in meinen Kompositionen irgendwo auf dieser Skala ab. Die moderne Instrumentaltechnik hilft mir: Auf vielen Instrumenten kann man nahtlos Übergänge von Geräuschen zu sinus-ähnlichen Tönen spielen; ich kann mich also auf meiner Skala während der Komposition fast nach Belieben hin und her bewegen. 

Anders als in einer abstrakten Forschungssituation stelle ich meine Versuchsanordnungen in eine Komposition mit einem dramatischen Verlauf. Wohin lenke ich mit der Musik die Aufmerksamkeit der Zuhörer? Will ich einen Raum-Gedanken exponieren oder verstecken? Ich bin frei: "Innermusikalisches" kann überhandnehmen, zum Beispiel ein spannender Rhythmus die Aufmerksamkeit so sehr ablenken, dass niemand mehr auf das Räumliche achtet. Und ich kann sogar tricksen. "Klang-Raum-Geometrien" können völlig anders erscheinen als die Geometrie des gebauten Raums. Und es kommt noch einiges dazu: So ist es in der Wahrnehmung ein Unterschied, ob ein Geräusch (oder Ton) rein mechanisch erfolgt oder von einem Menschen erzeugt wird. Immer wenn Menschen dabei sind, ist die Raumwahrnehmung (des Publikums) auch eine choreografische (was spielt sich zwischen den Menschen ab) und theatralische (wie benehmen sich die Menschen). Das Annähern zweier Musiker wird zum Beispiel automatisch als Annäherung zweier Menschen somit als sozialer Akt wahrgenommen. Niemand hört nur zwei Töne, die sich näher kommen, man nimmt zwei musizierende Menschen wahr. Oder wenn ein Musiker exsaltiert (theatralisch) spielt, wird man viel hinschauen. Und so weiter. Es spielt eine grosse Rolle (für die Raumwahrnehmung), ob der Besucher nur sieht, nur hört oder hört+sieht. Der gehörte Raum hat eine andere Gestalt als der gesehende Raum. Und für mich als Komponisten liegt hier ein wie mir scheint fast unermessliches Feld klangraum-kompositorischer Erkundung offen: Die Unterschiede dieser beiden dreidimensionalen Räume darzustellen UND: Sie mit dem innermusikalischen (harmonischen) Raum zu verknüpfen. 

Ich will mit einem banalen Beispiel illustrieren, was ich meine: Ein Klarinettist spielt und läuft dazu auf der Bühne herum. Nun wird es dunkel und man hört nur noch, wie der Klarinettenton sich weiter bewegt. Dann spielt der Klarinettist in mittlerer Lage einen dieser wunderbaren, völlig "raumlosen" Klarinettentöne und der Besucher weiss (im Dunkeln) nicht mehr, woher der Ton kommt. Dann spielt der Klarinettist plötzlich ein Geräusch und sofort weiss man wieder, wo er sich befindet. Oder stammt das Geräusch wirklich von der Klarinette oder war es anderen Ursprungs? Und so weiter. Das ist alles spannend, dramatisch.

Komponieren mit dem Raum heisst: eine weitere Dimension (einen "zusätzlichen Parameter") ins kompositorische Denken einzubeziehen. Es öffnet sich ein Kosmos neuer Möglichkeiten. Und dabei spielt die unterschiedliche räumliche Wahrnehmung von Tönen (eher harmonisch-räumlich) und Geräuschen (dreidiemnsional räumlich) eine zentrale Rolle.

30. Dezember 2021 Zur Rolle der Musiker in der Leichtbauten-Reihe

Die Wahrnehmung von Musik soll in der Leichtbauten-Reihe eine andere sein. Folglich messe ich den Musikern eine andere Rolle zu.

Ich kenne das "Musiker-Gefühl". Ich kenne die Lust, auf der Bühne zu stehen, die Aufmerksamkeit der Besucher ganz alleine auf mir zu wissen. Ich kenne das Gemeinschafts-Gefühl, in einem Ensemble zu spielen, das Einheitsgefühl in einem Chor zu singen und die eigene Stimme in den anderen aufgehen zu hören. Nur, das passt nicht so recht zum Architekturgedanken der Leichtbauten-Reihe. Architektur ist gebaut, ein Raum im "Dasein", in gewisser Weise ewig hier. Musiker kommen und bevölkern einen Raum, Musik beseelt ihn. Aber dann gehen Musiker wieder und mit ihnen die Musik. Und der gebaute Raum bleibt  da. Musiker bevölkern zwar den architektonischen Raum aber sie bevölkern nicht die Musik, sie erzeugen sie. Sie bringen die Musik mit, aber sie betreten den architektonischen Raum. Sie sind Gäste in der Architektur. Und manchmal ist die Musik so stark, dass man vergisst, wo man ist, wenn man ihnen zuhört. Wenn der architektonische Raum-für-sich während der Aufführungen aber im Bewusstsein bleiben soll, dann darf dieses "Alle-schauen-nur-auf-mich" Musizieren nicht überhand nehmemn. Denn immer muss die Frage spürbar bleiben, wie es um den gebauten Raum selbst steht, seine Anwesenheit in Abwesenheit der Musiker. Das ist nicht nur eine szenische Frage. Diese Frage muss auch auch zur Musik selbst gehören - das ist eine kompositorische Frage und soll an anderer Stelle erörtert werden. Es es ist auch eine Frage, die sich die Musiker stellen sollen.

Biegt ein Musiker um eine Ecke, ist er nicht mehr sichtbar, aber weiterhin hörbar. Und weil sich in diesem Moment, wo er visuell "verschwindet" die Wahrnehmung ändert: man hört ihn nur noch (und dann übrigens sofort anders als wenn man ihn auch sieht) ist eben der Moment, wenn der Musiker um die Ecke biegt für mich kompositorisch "interessant". Der Musiker aber soll, vielleicht einem Tänzer ähnlich, den Raum spüren. Dieses Um-die-Ecke-Biegen. Jedoch nicht nur körperlich-räumlich wie der Tänzer, sondern auch akustisch-räumlich. Er soll sich vorstellen, wie sich sein Klang am Hörort der Besucher ändert, wenn er um die Ecke biegt. Wenn die Zuhörer keinen Direktschall von seinem Instrument mehr hören, sondern nur noch die Reflexionen an den Wänden. Das hat nichts mit Melodien, Harmonien oder Rhythmen zu tun - es ist ein Gespür für die Architektur (oder Geografie) und das Verhalten der Klänge in ihr.

Dieses "Raumspüren" probierte ich bei den beiden ersten Stücke der Leichtbauten-Reihe aus. In "Chronos" befinden die Musiker zuerst eng zusammen: in der Mitte der Drehscheibe nah beieinander versammelt. Die Musiker verlassen im Verlauf des Stücks die zentrale "Musikergruppe", bleiben aber zunächst noch auf der Drehplattform. Danach verlassen sie auch die Plattform, um schliesslich ausserhalb des Publikums irgendwo weit weg im Aufführungssaal zu spielen. Diese Ausdehnung macht das Zusammenspiel immer schwieriger. Ich wollte, dass die Musiker ihr Auseinandergehen spüren als wären sie durch ein Gummiband im Ensemblezentrum aneinander gebunden. Ich wollte, dass dieses stets weiter gedehnte Band für das Publikum spürbar würde und dass es am Ende des Stücks musikalisch und (!) akustisch reissen solle: dass die Musik schliesslich aus disparaten Klangereignissen bestehen solle aus Musikern die irgendwo weit verteilt im Aufführungsraum spielen.

In "Gitter" spielen die Musiker vor, hinter, links, recht, oberhalb und unterhalb des Publikums. Das ermöglicht eine dreidimensionale Klangsphäre um die Hörer, gleichzeitig aber sind die Musiker maximal weit voneinander entfernt und gehen im Raum weit voneinander ihre Wege. Die Musiker meldeten zurück, man hätte viel mehr proben müssen. Die Leichtbauten-Kompositionen brauchen aufgrund der Raumkomplexität mehr Probenzeit als "normale" zeitgenössische Musik: Die Musiker müssen nicht nur die richtigen Töne, rhythmisch korrekt und klangfarblich abgestimmt spielen, sie müssen sich auch in einer Art Choreografie bewegen und dabei ihre Lautstärken pragmatisch an die sich ständig ändende Situation anpassen.

"HAUS" besteht aus drei Kompositionen. In "Architekturmusik" ist das Alleinesein der Musiker besonders akzentuiert, weil das Publikum Kopfhörer trägt und die Musiker nie hören, was das Publikum spielt. In "Hausmusik" sind die Musiker oft alleine in verschiedenen Räumen und wissen nicht, wie laut sie spielen sollen. Sie müssen ihre Lautstärke anpassen und sich sagen lassen, wie laut ihr Spiel dort klingt, wo das Publikum sitzt. In "Lit Marveil" ist ein/e SängerIn alleine mit einem Gast. Der/die InterpretIn dreht den Drehstuhl. Die Perspektive hat sich umgekehrt - der Gast steht im Zentrum, und der Künstler bewegt sich um ihn herum.

Ich probierte und probiere weiter Rollen aus: In "Rohrwerk" bezog ich die Musiker bei der Instrumentenentwicklung mit ein. Die Musiker brachten viele Ideen und Vorschläge ein, wie man aus Rohren Instrumente bauen kann. Sie waren an der Rohr-Instrumenten-Entwicklung beteiligt und spielten die neuen Instrumente. 

In den beiden letzten, grossen Projekte der Leichtbauten-Reihe, "Movements" und "La Marionette" werden sich Musiker noch viel aktiver im Raum bewegen, sie werden auch herumgefahren und sie werden ihrerseits auch das Publikum herumfahren.

22. Dezember 2021 "Ist HAUS noch Musik?"

An der Podiumsdiskussion nach einer HAUS-Aufführung wurde die Frage gestellt, ob HAUS denn noch Musik sei. Es gibt ja Leute, die finden, Musik habe eine Melodie und eine Harmonie und alles andere sei keine Musik. Aber es war eine Person mit viel Erfahrung im Hören zeitgenössischer Musik, die die Frage gestellt hatte. Und die Frage ist gut - und für mich wichtig. Denn ich will ja etwas Neues mit meinen Kompositionen, verfolge ganz besonders mit der Leichtbauten-Reihe eine Vision, Musik neu zu hören. Und ja, ich nenne sie immer noch Musik, spreche manchmal von "Architekturmusik" (so wie eine der drei Kompositionen von HAUS heisst), um auf den Raumaspekt aufmerksam zu machen. Und nun ist mir noch ein anderer Name durch den Kopf gegangen (s. unten). Bezeichnungen führen ein Eigenleben und deshalb will ich der Frage mit nachgehen, ob den HAUS noch Musik sei oder - wenn es keine Musik mehr sein sollte - wie denn meine "Musik" zu nennen sei.

Die HAUS-Komposition ist niedergeschrieben, es gibt eine Partitur. HAUS kann dereinst auch ohne mich aufgeführt werden, das Material ist nach der Premierenserie vollständig und wird veröffentlicht. Insofern ist HAUS in einem herkömmlichen Sinn Musik in europäischer Tradition, die einmal komponiert wurde und später interpretiert werden soll. Wie sieht es mit den drei Teilkompositionen aus? ARCHITEKTURMUSIK ist klassisch notiert, es gibt Positionsangaben in der Partitur und Angaben zum Licht und Video. Das gab es schon bei Boulez. Das Besondere von ARCHITEKTURMUSIK sind die Spiegelungen und, dass Tonband (per Kopfhörer) und live-Spiel nicht auseinandergehalten werden können. Der Hörer ist verunsichert. Es gab Gäste, die ständig die Kopfhörer weghielten, um ihr Hören zu überprüfen. Die Wahrnehmung war also nicht einfach fokussiert auf herkömmliches "Musik-Hören", sondern durch die Frage geleitet: "Was höre ich, was ist real?". HAUSMUSIK ist ebenfalls als Partitur notiert. Es steht zwar immer wieder, dass die Interpreten in einer gewissen Zeitspanne mit einem gewissen Matetrial (oft Geräusche) improvisieren sollen; aber auch das ist ja keineswegs neu. Die Freiheiten der Musiker sind in HAUSMUSIK ohnehin begrenzt. Jedoch - und das ist eher das Besondere - spielen die Interpreten in benachbarten Räumen und das Publikum sieht sie meistens nicht. Ihre Geräusche stammen von Alltagsgeräten, die nach den Räumen geordnet sind - und so hat das Publikum die Illusion, z.B. links vorne eine Küche, rechts hinten ein Badezimmer usw. zu hören. Und damit geraten die Architektur des Gebäudes (Geometrien) und die Akutstik der Räume in den Vordergrund der Wahrnehmung. LIT MARVEIL ist als Regieplan notiert: Was folgt nach was und was muss der/die Sänger:in wann machen. Zum Teil wird dann auf Noten verwiesen, gewisse Stellen sind also ausnotiert. Mit Schläuchen und Schalen wird die Akustik verändert, der "gedrehte Gast" verliert schnell seine Orientierung. Und es heisst in der "Partitur", dass die Sänger:innen sich anpassen, in der 1:1-Performance auf den Gast eingehen und so das Zeitgefüge mit gewissen Freiheiten gestalten sollen.

Die HAUS-Komposition ist also voller (räumlicher) Hörattraktionen und -täuschungen. Ist es vielleicht dieser Umstand, der die "Musik-Frage" aufgeworfen hat - wurde dies als eine Ablenkung von "reiner Musik" empfunden? Wenn Musik aus vier Parametern besteht: Tonhöhen, Dauern, Dynamik und Klangfarbe, ist in der HAUS-Komposition Raum nicht nur als fünfter Parameter beigefügt. Die andern musikalischen Parameter werden spezifisch aus der Raum-Perspektive betrachtet. Ja, das ist ein anderes Hören! Wie verhalten sich Töne in unterschiedlicher Distanz zum Hörer zueinander, wie verhalten sich Töne in besonderen akustischen Situationen, welche Töne können räumlich miteinander verschmelzen, welche Klänge sind "lokalisierbar" und welche nicht? Und so weiter. Die HAUS-Komposition ist inspiriert durch Klang-räumliche und Architektur-räumliche Fragen und somit unbedingt an eine live-Situation gebunden.

Von HAUS kann man somit keine Audio-Aufnahme machen und diese sonstwo abspielen. Wenn nun "Musik" - und damit komme ich auf die anfängliche Frage zurück - als vom Raum abstrahiertes Klanggefüge in der Zeit definiert würde, so  dass man sie aufnehmen und dann von ihr irgendwo sonst eine Aufnahme abspielen kann, dann ist HAUS tatsächlich keine Musik. Denn wie gesagt: HAUS muss sich in einer Architektur mit Gängen, Winkeln und nahen wie fernen Zimmern entfalten. HAUS soll Architektur zum Klingen bringen, ein Gebäude musikalisch ausloten. (Als Randbemerkung: Wenn man keine Tonaufnahme machen von diesem Werk, wie könnte man HAUS sonst dokumentieren?)

Übrigens ist HAUS zwar an eine live-Aufführung gebunden, aber dennoch nicht "sitespecific": Es wurde nicht für einen ausgewählten Raum komponiert. Vielmehr ist es für drei Raumtypen komponiert: ARCHITKETURMUSIK für einen Aufführungsraum, HAUSMUSIK für einen Durchgangsraum, LIT MARVEIL für ein eher kleines Zimmer. Die kompositorischen Fragen sind durch diese drei Raumtypen inspiriert. Falls HAUS dereinst ohne mein Beisein aufgeführt wird, ist es den Interpretation überlassen, passende "Aufführungsräume", "Durchgangsräume" und "kleine Räume" zu finden und das Werk dann an diese Räume gescheit anzupassen. Und in der Premierenserie werden dazu viele Hinweise gegeben. Einmal wird HAUS in einem Quartier, einmal in drei Dörfern, einmal in einem Theater und einmal in einer Art Künstlerhaus aufgeführt. Wie sich die Komposition in diesen Umgebungen verhält, wird festgehalten.

Wenn HAUS keine "Musik" wäre, was könnte stattdessen ein guter Begriff sein? HAUS schafft ungewohnte Hörsituationen. Darin ist Musik-im-herkömmlichen-Sinn nur ein Teil. Warum also nicht statt "Musik" den Begriff "Hörsituation" verwenden? In eine Hörsituation muss sich der Besucher begeben. Man kann sie nicht aufnehnen. Mit "Hörsituation" ist das Hören in seiner Ganzheit gemeint: herkömmliches musikalisches Hören (Motive, Rhythmen, Harmonien - wovon man eine Tonaufnahme machen kann) UND akustisches Hören (Räume, Geometrien, Distanzen). Und noch mehr: Eine "Situation" ist nie rein akustiser Art. Auch das Licht spielt eine Rolle. Licht macht Architektur (oder eine Landschaft) visuell, Musik macht Architektur (oder eine Landschaft) auditiv wahrnehmbar. Auch wenn ich von "Hörsituation" spreche, der Besucher nimmt die Situation als ganze wahr; für ihn ist sie audio-visueller Art. (Mehr noch, die Atmosphäre-vor-Ort wird mit allen Sinnen wahrgenommen, aber dazu ausführlich an anderer Stelle.) Hören wird zwar Teil einer umfassenderen Wahrnehmung. Es steht aber im Mittelpunkt! (Deshalb wird das Hinschauen in allen drei Kompositionen ganz bewusst zeitweise verunmöglicht oder der Sehsinn zumindest verunsichert; er ist so schrecklich dominant.) Es geht in der HAUS-Komposition wie in der ganzen Leichtbauten-Reihe ums Hören. Noch eingrenzender: Es geht um auditive Zeitgestaltung, wie in einem klassischen Musikwerk. Aber eben auch um musikalische Raumgestaltung. Räumliches Hören. Es wird ein "Hör-Erleben-vor-Ort" komponiert. 

Wenn HAUS keine "Musik" sein sollte, sind vielleicht ein paar Abgrenzungen wichtig: Es ist entschieden keine Klangkunst (auch wenn Klangkunst auch Hörsituationen schafft), denn ein Zeitverlauf wurde festgelegt, das Publikum kann nicht kommen und gehen, wann es will.

Und es ist auch kein Musiktheater. Es gibt keine Requisiten, die nicht Instrumente oder Notenständer (oder Pultlampen) sind oder sonst der Klangerzeugung dienen. Es gibt in HAUS keine Handlung seitens der Interpreten, die nicht dazu dient Musik zu erzeugen. Die Interpreten sind als Personen (oder Charaktere) völlig unwichtig. Die Interpreten erzeugen Töne-in-der Zeit, wie das Musiker so tun. Sie spielen aber auch in räumlichen Konstellationen und bevölkern die Architekturen, in denen sie spielen. Sie sind nicht unsichtbar und werden somit als Menschen wahrgenommen. War die "Musik"-Frage vielleicht eine "Musiker"-Frage? Die Rolle der Musiker in HAUS ist (wie in der ganzen Leichtbauten-Reihe) komplex und "neu" zu definieren - aber dazu ein anderes Mal. 

12. Dezember 2021 - Zur Absicht und Wahrnehmung in HAUSMUSIK

HAUSMUSIK beginnt damit, dass die vier MusikerInnen in vier um das Publikum herum verteilten Räumen musizieren - in jedem Raum ein/e MusikerIn. Sie erzeugen zuerst Geräusche. Nicht nur die Geräusche, sondern auch die Akustik der vier Räume unterscheiden sich voneinander und so man hört perfekt räumlich, wie im Alltag wo man all die unzähligen Geräusche mit den Ohren stets lokalisieren kann. Das Gehör ist darauf angelegt und super trainiert, Geräusche räumlich zu lokalisieren. Nun wandeln sich die Geräusche mehr und mehr zu Tönen. Im Zusammenklang der Töne bilden sich (musikalische) Harmonien. Und immer noch hört das Publikum, wie sich die neu entstehende harmonische Musik auf die vier Räume erstreckt, es hört immer noch räumlich. Wenn auch nicht mehr so perfekt wie bei den Geräuschen. Denn die Töne können auch über die Räume hinweg "verschmelzen" und dann hört man nicht mehr so genau, welcher Ton woher kommt. Es ist ein Hör-Phänomen: Man hat den Eindruck, dass sich die Töne verbinden. Diesen Effekt haben die Besucher wahrgenommen. Sie melden zurück, dass es doch eine schöne Phantasie sei, wenn quasi vier Bewohner einer Gemeinschaft zwar jeder in seinem Raum sitzt, sie aber doch gemeinsam musizieren können. Es freut mich, dass die Besucher Fantasien entwickeln, die sich in der Nähe meiner Absicht bewegen: Ja, Musik kann über räumliche Trennung hinaus einen musikalischen Sinnzusammenhang stiften und damit eine räumliche Trennung überwinden. Ein Wunder der Musik! Töne können also akustisch "verschmelzen" und mit Hilfe von Harmonien können sie sogar noch stärker aneinander gebunden werden. So wird in gewisser Weise der dreidimensionale Raum überwunden und dies schafft diese zauberhafte "Ensemble"- oder "Chor"-Aura, die nur durch die Musik zustande kommen kann. 

Dann erscheinen die Musiker im Publikumsraum und nun setze ich eigentlich zur raumkompositorischen Hauptidee von HAUSMUSIK an: Die Musiker spielen beim Hereinkommen Glöcklein, die zusammen einen einfachen Dur-Klang ergeben. Im Publikum angekommen tauschen sie ihre Glöcklein mit grosser Geste aus: Alle sollen sehen, wie Töne getauscht werden. Nun - so meine Absicht - sollte das Publikum doch "vermuten", dass sich der Klang ändere. Schliesslich wurden ja die Töne getauscht. Und es sollte umso erstaunter sein, dass man von diesem Tausch rein gar nichts hört. Ja so ist es: Wenn in einem nahe versammelten Ensemble unterschiedlich Töne gleicher Klangfarbe den Ort wechseln, hört man das nicht. Das ist akustisch eigentlich total überraschend. Wieder ein Wunder der Musik. Würde man zwei Bücher in einem Bücherregal austauschen, würde das jedermann sehen. Aber Töne gleicher Klangfarbe gehen in einem Gesamtklang auf, auch wenn es verschiedene Tonhöhen sind. Man kann sie räumlich nicht voneinander unterscheiden. Wie gesagt: Ein kleines Wunder!

Aber eben: Das Publikum hat das nicht gemerkt, niemand. Die Zuhörer haben viel über diese Stelle gesprochen, waren abgelenkt durch die Farben der Glöcklein (die ja den Tausch-Effekt visuell hätten verstärken sollen). So ergeht es mir manchmal mit meinen raumkompositorischen Neuerfindungen: Sie werden nicht gehört. (Aber ich hoffe: Sie werden dereinst doch gehört!) Ich muss meine raumkompositorischen Ideen manchmal überdeutlich darlegen. Sonst merkt niemand, dass er oder sie getäuscht wurde. Und dann ergibt es keinen Sinn. Ich will ja etwas "sagen". Und das Nachdenken der HörerInnen kann erst einsetzen, wenn sie denn auch wahrnehmen, dass eine Täuschung stattgefunden hat, wenn sie überrascht sind und sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Dann beginnen sie über ihr Hören nachzudenken. Und dann sind sie in meiner Nähe.